Zunächst gab es die drei großen frohen Verkündigungen, nämlich erstens, dass der Verein Mikado e.V. als Träger des Zimmer 16 einen neuen Vorstand hat, dass zweitens am 25.12., also am ersten Weihnachtsfeiertag die 187. Lesebühne stattfinden wird, und dass wir drittens nächstes Jahr im März den 15. Jahrestag der Offenen Lesebühne SoNochNie! begehen werden, der einzigen Lesebühne mit einer mehrstrophigen Hymne.
Begleitet vom Jubel der zahlreich erschienenen Gäste betrat sodann der Themenbeauftragte die Bühne, Matthias Rische, der eine Geschichte zum Thema „Faulheit“ vortrug mit dem naheliegenden Titel „Abschaum“. Es ging um einen Mann, dem sein Arzt nahelegte kürzerzutreten, weil … äöhm, … das habe ich vergessen, aber warum soll einem ein Arzt empfehlen kürzerzutreten, wenn nicht deswegen, weil der Arzt selbst kürzertreten will oder soll. Er solle sich ein Beispiel am Faultier nehmen. Aber Faultiere scheiden alle acht Tage nur Exkremente aus, in ihren Bauchfalten gedeihen Algen, der Protagonist sah ein Problem, wie er das wohl hinbekommen sollte. Über diesen Gedanken unkonzentriert geworden stürzte er und kam nicht wieder hoch. Niemand half. Und er sah sich zu Abfall, zu Abschaum werden. Er dachte über die Langsamkeit des Verfalls nach. Und in dem Zusammenhang fiel der schöne Satz: „Das hat der Mensch gebaut, das kann der Mensch auch besudeln.“ Wahrscheinlich wollte er schon nach kurzer Zeit Exkremente ausscheiden.
Wir feierten an diesem Tag einen Rekord, glaube ich. Es lagen zwölf oder dreizehn Lose in der Amiga-Schüssel. Mindestens die Hälfte aller Lesewilligen (darunter mich – schluchz) mussten wir am Ende ungelesen nach Hause schicken.
Außerdem gab es einige neue Gesichter auf der Bühne, z.B. Stefanie Talaska (Alaska mit T vorne dran). Sie las drei kurze Miniaturen, zunächst über Horst Seehofer, der seine Mausi fragte, ob sie noch wach wäre, weil er vor dem Einschlafen noch ein bisschen lieb zu ihr sein wollte, um am nächsten Morgen nach Berlin zu fahren und dort gegen ein Gesetz zur Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe zu stimmen. Dann gab es eine Miniatur über Maxim Biller, von der ich mir nur notiert habe, dass er gerne lecke, weil er beim Lecken etwas anderes sein könne, ohne seine Begabung aufzugeben. Immerhin habe ich mal nachgelesen, wer Maxim Biller überhaupt ist. Und dann ging es noch um das, was andere Menschen gerade eben tun (während wir in der Lesebühne rumoxidierten), nämlich um ihr Leben und ihre Lieben kämpfen. Alle hatten verstanden, dass es um Flüchtlinge ging, nur ich nicht.
Als dritten Lesenden spuckte unser Feuerkelch Wolfgang Eubel aus, der in mittlerweile bewährter Manier Lose ziehen ließ, welche Nummer er aus seinem Vermischten vortragen solle. Diesmal ließ er an der Bar ziehen. Zunächst gab es Nr. 13, zu der er den Hinweis gab, dass das letzte Wort des ersten Satzes mit einem „h“ geschrieben werde. Der Satz lautete: „Die Zeit hat nur eine Uhrsache.“ Und ich bin sehr stolz, dass ich weiß, wo das „h“ im letzten Wort wahrscheinlich hingehört. Und sie bereite uns jede Menge Probleme, seitdem „er“ sie erfand. Ich bin mir nicht sicher, ob Wolfgang uns verraten hat, wer „er“ in diesem Zusammenhang gewesen sein soll. Dann gab es die Nr. 12, in der es darum ging, dass die Radiosender alle dieselben Songs spielen, oder war das schon die Diskussion, in der das Thema aufkam, dass Musik zu einem Einheitsbrei verkommen wäre, was Wolfgange Weber bestritt. Zum letzten gab es noch Text Nr. 7 mit der These: „Gib einem Menschen einen Fisch, und er ernährt sich, gib ihm eine Angel, …“, nun, ich habe es so verstanden, dass die Angel als Vorstufe des Schleppnetzes und der Aquakulturen etwas Verwerfliches wäre, was ich nicht ganz bestätigen kann, weil auch ich meinen Fisch entweder im Kaufland oder auf dem Wochenmarkt erwerbe, wo ein geangelter Fisch ein Wunder und ein Ausbund an Naturverbundenheit wäre.
Vor der Pause wurde dann von meiner Losfee Wolfgang Weber Wolfgang Weber gezogen. Er nahm Bezug auf eine Website namens Wind.cel[1]. Also da habe ich wohl etwas falsch verstanden. Gibts nämlich nicht. „Warten, immer nur warten, warten auf Godot. … Internet oder Godot? … Manche glauben, ohne Wind kein Internet. … Futur, Futur toujours, … www.wind.cel, kommt von celestis, himmlisch[2], … von Erhebung zu Erhebung, klopf, klopf. … Das Inter ist nicht immer nett. … Draußen heult der Shitstorm. … Warten auf nettere Umgangsformen, ich glaube, Godot kommt zuerst. … Wehlan for the people.“
Das waren meine Notizen vor der Pause. Nach der Pause gab es die Wahl der Themenbeauftragten für den Monat Januar 2024. Noch ist ungewiss, ob es der 22. Oder der 29.1. sein wird, hängt davon ab, ob am 1. Januar eine Offene Bühne stattfindet, und wenn nein, ob sie am 8. Januar nachgeholt wird. Wir halten euch auf dem Laufenden. Als Themenbeauftragte meldete sich ohne schuldhaftes Zögern die Swantje Lange, und sie wählte das Thema „Am seidenen Faden“. Ein sehr schönes Thema, wie ich finde, griffiger als meins für Dezember, das da lautet „Zischen“.
Die erste Lesende nach der Pause war Vera Fang. Ihr Text hieß: „Ich bin, was ich bin“, ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein, es ging ums …
Nein, gespoilert wird nicht, es sollte eine Überraschung bleiben. Es ging darum, dass die Alten sie in die Außenhöhlen gerufen hatten. Die dritte Generation unseres Stamms. Sie, die Ich-Erzählerin, beschrieb sich selbst genau wie ihre Mutter als Individualistin, Außenseiterin. Trotzdem sollte sie nicht aufsässig sein, weil es das Ansehen der Oma beschmutzen würde. Dann sollte alles sehr schnell gehen. Sie standen kurz vor der replizierten Niederkunft. Sie würde eine Schwester bekommen, genau wie sie selbst. Dann folgten zehn lange Sekunden eines Countdowns, nach dem die Umsiedlung erfolgen sollte, vorher musste sich noch verkapselt werden. Und dann ging es per explosionsartigem Vorgang zwei Meter weit aus der Höhle hinaus, und da wusste man nicht, wo genau der Stamm sich nun ansiedeln würde, auf der Küchenarbeitsplatte, im auf dem Herd köchelnden Gulasch oder gar an einer Fensterscheibe und wie die Lebensbedingungen da sein würden. Von einem Taschentuch war keine Rede.
Dann las Paul Kustermann. Er las eine Geschichte über Packo, ich schreib den jetzt mal so, könnte auch Pacco sein, ein älter gewordener Phantast. Es gab eine Show in seiner Wohnung, 20 Freunde, er spielte auf einer Domra[3] russische Volksmusik. Während seines Spiels musst er eine kaputte Saite wechseln, was der Erzähler peinlich fand, und der anschließende Konflikt bestand darin, ob man Packo das sagen dürfe. Aber dann wurde der Ich-Erzähler bäuchlings auf einen Stuhl geschnallt und geschaukelt, und plötzlich flog er über der Schönhauser Allee, so dass mir schon beim Zuhören schwummerig wurde. Es wurde klar, dass er träumte, und zwar, dass Matthias gestorben wäre. Dass man trauern müsse um all die Packos, die uns verlassen haben. Ist, fragte sich das Publikum in der Diskussion, Matthias vielleicht Packo? Man weiß es nicht. Im Traum haben Personen oft nur einen Bezug zur Person, sind nicht die Person selbst. Paul sagte auch noch den schönen Satz: „Eine Geschichte schreibt sich so, und dann fragt man sich, wieso.“ Die Themenbeauftragte für Januar, Swantje Lange las drei Miniaturen. Ich habe mir die Fragestellung aufgeschrieben, ob sich bei anderen Menschen auch alle Gedankengänge wiederholen. Was soll ich dazu sagen? Ja. Tun sie. Sie hatte auch wieder eine assoziationsreiche Stichpunktliste dabei. Wolfgang Eubel wars, wenn ich mich recht entsinne, dem auffiel, dass es am Anfang hauptsächlich Substantive, später auch Adjektive und Adverbien waren, ich muss mal recherchieren, was ein Adverb ist, ich weiß, ich sollte das wissen, aber vielleicht kann mir in diesem meinen Text mal jemand markieren, was alles ein Adverb ist, damit ich das mal lerne. Ich habe mir notiert, was an Wort immer gerade dran war, als ich das vorhergehende zu Ende geschrieben hatte, und selbst da ist eine ansehnliche Liste herausgekommen: „Vogelschar, Lavendelfeld, Freiheit, Geldübergabe, Korbgeflecht, Gewissheit, immer wieder, Adjektiv, wie ist es?, Tragen, Gebäude, Kerzenschein, Weihnachtsbaum, charakterschwach, Struktur, ausgeglichen (ist das ein Adverb?), Peace-Zeichen.“ Während ich mitschrieb, fühlte ich mich an Schreibübungen erinnert, bei denen nach zwanzig Minuten jemand dazukam und ein Wort in die Runde warf, das man dann im weiteren Verlauf der Geschichte sinnvoll unterbringen musste. Und ich dachte, wie wäre es, aus dieser Wortaneinanderreihung eine Geschichte zu machen. Würde bloß niemandem auffallen. Zum Schluss las Swantje eine Geschichte, wie ihr der Tod des Schmetterlings das Herz brach. Schmetterlinge leben nicht lang. Im Grunde ging es darum, dass sie dem Boten der Nachricht, ihrem LAG, irgendwie die Schuld daran gab, oder er zumindest sich am Ende schuldig fühlte, aber auch nichts tun konnte, … Ich warf in der Diskussion ein, dass Möwen mehr als dreißig Jahre alt werden können. Aber das hilft den Schmetterlingen nicht wirklich.
Weil so viele der Lesenden mit kurzen Texten ankamen, die das Umdrehen der Sanduhr nicht verlohnten, hatten wir beschlossen, ein Bonus-Los zu ziehen. Die letzte Lesende war Lorena Spitzmüller. Sie hatte zwei Gedichte dabei, eins namens „Ausdauer“ und eins, das „Der Wolkenteppich schimmert“ hieß. Das erste kann man auf Instagram oder Facebook nachhören und sehen, denn wir haben es nach dem Ende der Veranstaltung noch aufgenommen. Wir planen, von jeder Lesebühne einen kurzen Videoschnipsel zu veröffentlichen. Wir sind noch in der Diskussion, wie wir den oder die Glückliche(n) auswählen. Lorenas Gedichte fanden viel Zustimmung. Es ist nur schwer, Poesie in so einem Protokoll wiederzugeben. Fingerkuppen, die verbunden werden müssen, weil sie sich an Beton immer wieder aufschürfen. Ein zweiter Ozean als Nebeldach über mir. Leere, die sich um den Hals schmiegt wie Staub. Entstundete Zeit.
Lorena fand viel Zustimmung und bekam begeisterten Applaus. Sie hatte auch ein Buch dabei, das sie als Prototyp für sich selbst gestaltet hat mit eigenen Illustrationen. Mit diesem lyrischen Abschluss fand die 186. Lesebühne ihr Ende. Bis zum nächsten am Mal am 25. Dezember 2023, Euer
[1] Nein, ich glaube, er hatte seinen Text so genannt.
[2] Celestis, Inc. is a company that launches cremated human remains into space, a procedure known as a space burial.
[3] Die Domra (russisch Домра) ist eine in der russischen Musik gespielte Schalenhalslaute.