Entstundete Zeit

Zunächst gab es die drei großen frohen Verkündigungen, nämlich erstens, dass der Verein Mikado e.V. als Träger des Zimmer 16 einen neuen Vorstand hat, dass zweitens am 25.12., also am ersten Weihnachtsfeiertag die 187. Lesebühne stattfinden wird, und dass wir drittens nächstes Jahr im März den 15. Jahrestag der Offenen Lesebühne SoNochNie! begehen werden, der einzigen Lesebühne mit einer mehrstrophigen Hymne.

Begleitet vom Jubel der zahlreich erschienenen Gäste betrat sodann der Themenbeauftragte die Bühne, Matthias Rische, der eine Geschichte zum Thema „Faulheit“ vortrug mit dem naheliegenden Titel „Abschaum“. Es ging um einen Mann, dem sein Arzt nahelegte kürzerzutreten, weil … äöhm, … das habe ich vergessen, aber warum soll einem ein Arzt empfehlen kürzerzutreten, wenn nicht deswegen, weil der Arzt selbst kürzertreten will oder soll. Er solle sich ein Beispiel am Faultier nehmen. Aber Faultiere scheiden alle acht Tage nur Exkremente aus, in ihren Bauchfalten gedeihen Algen, der Protagonist sah ein Problem, wie er das wohl hinbekommen sollte. Über diesen Gedanken unkonzentriert geworden stürzte er und kam nicht wieder hoch. Niemand half. Und er sah sich zu Abfall, zu Abschaum werden. Er dachte über die Langsamkeit des Verfalls nach. Und in dem Zusammenhang fiel der schöne Satz: „Das hat der Mensch gebaut, das kann der Mensch auch besudeln.“ Wahrscheinlich wollte er schon nach kurzer Zeit Exkremente ausscheiden.

Wir feierten an diesem Tag einen Rekord, glaube ich. Es lagen zwölf oder dreizehn Lose in der Amiga-Schüssel. Mindestens die Hälfte aller Lesewilligen (darunter mich – schluchz) mussten wir am Ende ungelesen nach Hause schicken.

Außerdem gab es einige neue Gesichter auf der Bühne, z.B. Stefanie Talaska (Alaska mit T vorne dran). Sie las drei kurze Miniaturen, zunächst über Horst Seehofer, der seine Mausi fragte, ob sie noch wach wäre, weil er vor dem Einschlafen noch ein bisschen lieb zu ihr sein wollte, um am nächsten Morgen nach Berlin zu fahren und dort gegen ein Gesetz zur Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe zu stimmen. Dann gab es eine Miniatur über Maxim Biller, von der ich mir nur notiert habe, dass er gerne lecke, weil er beim Lecken etwas anderes sein könne, ohne seine Begabung aufzugeben. Immerhin habe ich mal nachgelesen, wer Maxim Biller überhaupt ist. Und dann ging es noch um das, was andere Menschen gerade eben tun (während wir in der Lesebühne rumoxidierten), nämlich um ihr Leben und ihre Lieben kämpfen. Alle hatten verstanden, dass es um Flüchtlinge ging, nur ich nicht.

Als dritten Lesenden spuckte unser Feuerkelch Wolfgang Eubel aus, der in mittlerweile bewährter Manier Lose ziehen ließ, welche Nummer er aus seinem Vermischten vortragen solle. Diesmal ließ er an der Bar ziehen. Zunächst gab es Nr. 13, zu der er den Hinweis gab, dass das letzte Wort des ersten Satzes mit einem „h“ geschrieben werde. Der Satz lautete: „Die Zeit hat nur eine Uhrsache.“ Und ich bin sehr stolz, dass ich weiß, wo das „h“ im letzten Wort wahrscheinlich hingehört. Und sie bereite uns jede Menge Probleme, seitdem „er“ sie erfand. Ich bin mir nicht sicher, ob Wolfgang uns verraten hat, wer „er“ in diesem Zusammenhang gewesen sein soll. Dann gab es die Nr. 12, in der es darum ging, dass die Radiosender alle dieselben Songs spielen, oder war das schon die Diskussion, in der das Thema aufkam, dass Musik zu einem Einheitsbrei verkommen wäre, was Wolfgange Weber bestritt. Zum letzten gab es noch Text Nr. 7 mit der These: „Gib einem Menschen einen Fisch, und er ernährt sich, gib ihm eine Angel, …“, nun, ich habe es so verstanden, dass die Angel als Vorstufe des Schleppnetzes und der Aquakulturen etwas Verwerfliches wäre, was ich nicht ganz bestätigen kann, weil auch ich meinen Fisch entweder im Kaufland oder auf dem Wochenmarkt erwerbe, wo ein geangelter Fisch ein Wunder und ein Ausbund an Naturverbundenheit wäre.

Vor der Pause wurde dann von meiner Losfee Wolfgang Weber Wolfgang Weber gezogen. Er nahm Bezug auf eine Website namens Wind.cel[1]. Also da habe ich wohl etwas falsch verstanden. Gibts nämlich nicht. „Warten, immer nur warten, warten auf Godot. … Internet oder Godot? … Manche glauben, ohne Wind kein Internet. … Futur, Futur toujours, … www.wind.cel, kommt von celestis, himmlisch[2], … von Erhebung zu Erhebung, klopf, klopf. … Das Inter ist nicht immer nett. … Draußen heult der Shitstorm. … Warten auf nettere Umgangsformen, ich glaube, Godot kommt zuerst. … Wehlan for the people.“

Das waren meine Notizen vor der Pause. Nach der Pause gab es die Wahl der Themenbeauftragten für den Monat Januar 2024. Noch ist ungewiss, ob es der 22. Oder der 29.1. sein wird, hängt davon ab, ob am 1. Januar eine Offene Bühne stattfindet, und wenn nein, ob sie am 8. Januar nachgeholt wird. Wir halten euch auf dem Laufenden. Als Themenbeauftragte meldete sich ohne schuldhaftes Zögern die Swantje Lange, und sie wählte das Thema „Am seidenen Faden“. Ein sehr schönes Thema, wie ich finde, griffiger als meins für Dezember, das da lautet „Zischen“.

Die erste Lesende nach der Pause war Vera Fang. Ihr Text hieß: „Ich bin, was ich bin“, ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein, es ging ums …

Nein, gespoilert wird nicht, es sollte eine Überraschung bleiben. Es ging darum, dass die Alten sie in die Außenhöhlen gerufen hatten. Die dritte Generation unseres Stamms. Sie, die Ich-Erzählerin, beschrieb sich selbst genau wie ihre Mutter als Individualistin, Außenseiterin. Trotzdem sollte sie nicht aufsässig sein, weil es das Ansehen der Oma beschmutzen würde. Dann sollte alles sehr schnell gehen. Sie standen kurz vor der replizierten Niederkunft. Sie würde eine Schwester bekommen, genau wie sie selbst. Dann folgten zehn lange Sekunden eines Countdowns, nach dem die Umsiedlung erfolgen sollte, vorher musste sich noch verkapselt werden. Und dann ging es per explosionsartigem Vorgang zwei Meter weit aus der Höhle hinaus, und da wusste man nicht, wo genau der Stamm sich nun ansiedeln würde, auf der Küchenarbeitsplatte, im auf dem Herd köchelnden Gulasch oder gar an einer Fensterscheibe und wie die Lebensbedingungen da sein würden. Von einem Taschentuch war keine Rede.

Dann las Paul Kustermann. Er las eine Geschichte über Packo, ich schreib den jetzt mal so, könnte auch Pacco sein, ein älter gewordener Phantast. Es gab eine Show in seiner Wohnung, 20 Freunde, er spielte auf einer Domra[3] russische Volksmusik. Während seines Spiels musst er eine kaputte Saite wechseln, was der Erzähler peinlich fand, und der anschließende Konflikt bestand darin, ob man Packo das sagen dürfe. Aber dann wurde der Ich-Erzähler bäuchlings auf einen Stuhl geschnallt und geschaukelt, und plötzlich flog er über der Schönhauser Allee, so dass mir schon beim Zuhören schwummerig wurde. Es wurde klar, dass er träumte, und zwar, dass Matthias gestorben wäre. Dass man trauern müsse um all die Packos, die uns verlassen haben. Ist, fragte sich das Publikum in der Diskussion, Matthias vielleicht Packo? Man weiß es nicht. Im Traum haben Personen oft nur einen Bezug zur Person, sind nicht die Person selbst. Paul sagte auch noch den schönen Satz: „Eine Geschichte schreibt sich so, und dann fragt man sich, wieso.“ Die Themenbeauftragte für Januar, Swantje Lange las drei Miniaturen. Ich habe mir die Fragestellung aufgeschrieben, ob sich bei anderen Menschen auch alle Gedankengänge wiederholen. Was soll ich dazu sagen? Ja. Tun sie. Sie hatte auch wieder eine assoziationsreiche Stichpunktliste dabei. Wolfgang Eubel wars, wenn ich mich recht entsinne, dem auffiel, dass es am Anfang hauptsächlich Substantive, später auch Adjektive und Adverbien waren, ich muss mal recherchieren, was ein Adverb ist, ich weiß, ich sollte das wissen, aber vielleicht kann mir in diesem meinen Text mal jemand markieren, was alles ein Adverb ist, damit ich das mal lerne. Ich habe mir notiert, was an Wort immer gerade dran war, als ich das vorhergehende zu Ende geschrieben hatte, und selbst da ist eine ansehnliche Liste herausgekommen: „Vogelschar, Lavendelfeld, Freiheit, Geldübergabe, Korbgeflecht, Gewissheit, immer wieder, Adjektiv, wie ist es?, Tragen, Gebäude, Kerzenschein, Weihnachtsbaum, charakterschwach, Struktur, ausgeglichen (ist das ein Adverb?), Peace-Zeichen.“ Während ich mitschrieb, fühlte ich mich an Schreibübungen erinnert, bei denen nach zwanzig Minuten jemand dazukam und ein Wort in die Runde warf, das man dann im weiteren Verlauf der Geschichte sinnvoll unterbringen musste. Und ich dachte, wie wäre es, aus dieser Wortaneinanderreihung eine Geschichte zu machen. Würde bloß niemandem auffallen. Zum Schluss las Swantje eine Geschichte, wie ihr der Tod des Schmetterlings das Herz brach. Schmetterlinge leben nicht lang. Im Grunde ging es darum, dass sie dem Boten der Nachricht, ihrem LAG, irgendwie die Schuld daran gab, oder er zumindest sich am Ende schuldig fühlte, aber auch nichts tun konnte, … Ich warf in der Diskussion ein, dass Möwen mehr als dreißig Jahre alt werden können. Aber das hilft den Schmetterlingen nicht wirklich.

Weil so viele der Lesenden mit kurzen Texten ankamen, die das Umdrehen der Sanduhr nicht verlohnten, hatten wir beschlossen, ein Bonus-Los zu ziehen. Die letzte Lesende war Lorena Spitzmüller. Sie hatte zwei Gedichte dabei, eins namens „Ausdauer“ und eins, das „Der Wolkenteppich schimmert“ hieß. Das erste kann man auf Instagram oder Facebook nachhören und sehen, denn wir haben es nach dem Ende der Veranstaltung noch aufgenommen. Wir planen, von jeder Lesebühne einen kurzen Videoschnipsel zu veröffentlichen. Wir sind noch in der Diskussion, wie wir den oder die Glückliche(n) auswählen. Lorenas Gedichte fanden viel Zustimmung. Es ist nur schwer, Poesie in so einem Protokoll wiederzugeben. Fingerkuppen, die verbunden werden müssen, weil sie sich an Beton immer wieder aufschürfen. Ein zweiter Ozean als Nebeldach über mir. Leere, die sich um den Hals schmiegt wie Staub. Entstundete Zeit.

Lorena fand viel Zustimmung und bekam begeisterten Applaus. Sie hatte auch ein Buch dabei, das sie als Prototyp für sich selbst gestaltet hat mit eigenen Illustrationen. Mit diesem lyrischen Abschluss fand die 186. Lesebühne ihr Ende. Bis zum nächsten am Mal am 25. Dezember 2023, Euer


[1] Nein, ich glaube, er hatte seinen Text so genannt.

[2] Celestis, Inc. is a company that launches cremated human remains into space, a procedure known as a space burial.

[3] Die Domra (russisch Домра) ist eine in der russischen Musik gespielte Schalenhalslaute.

Arrogant wie immer, die 174. Lesebühne SoNochNie!

Nach einer Regelerläuterung begann Leovinus den Abend mit dem 184. Geburtstag von Annie Taylor, die am 24. Oktober 1901 als angeblich erster Mensch sich in einem Fass die Niagarafälle hinunterfallen lassen hat und das auch überlebte. In einem Loriotfilm soll der Satz gesprochen worden sein: „Ich würde mich mit Ihnen in einer Tonne die Niagarafälle hinuntertreiben lassen.“

Nun, so einen Stunt musste die Themenbeauftragte des Abends, Petra Klingel, nicht leisten. Sie musste nur den Mut aufbringen, auf die Bühne zu kommen und ihre Geschichte vorzulesen. Sie hieß wie das Thema des Abends „Relation“.

Im Grunde erzählte sie vom Glück, eine in der Kindheit eingeprägte, festgefügte Meinung oder Haltung im Leben wieder loslassen zu können. Die Hauptheldin stammte vom Dorf in Thüringen, wo die Regel galt: Tiere, egal ob Katzen, Hunde oder Pferde, kamen nicht ins Haus.

Dieses Kindheitsmuster wurde zuerst von Freundin Heidi, bei der sie auf einem Feldbett im Flur schlief, auf die Probe gestellt, die eine Katze namens Minka hatte, die bei Heidi im Bett(!) schlief. Asozial.

Es blieb ihrem späteren Partner, Inhaber eines Uhrenladens, der unbedingt einen Dackel wollte, vorbehalten, diese Ansicht zu zerstören. Der frische Dackel fiepte nämlich nächtens, und weil der Mann das schnarchend nicht hörte, musste sie eine Lösung finden, und das Einzige, was am Ende funktionierte, war, den Dackel zu sich ins Bett zu holen. Erst sollte es eine Ausnahme sein, aber das war schnell vorbei. Katharsis.

Die Diskussion erbrachte, dass für eine spannende Geschichte ein bisschen mehr Widerstand gegen den Dackel gut gewesen wäre, aber es heißt ja nicht umsonst Hundeblick, oder? Welcher Widerstand sollte da glaubhaft rüberkommen?

Leos Feuerkelch spuckte als zweiten Teilnehmer unseres multimagischen Literaturwettstreits Michael Wiedorn aus, der den Text „Wer kann mich ergreifen?“ las. Es ging um einen Jungen, der sich ohne Spiegel sehen will, ums Richtung wechseln bei Höchstgeschwindigkeit, um Bruder und Schwester, die jeweils zwei Körper haben, und um Schottland und Budapest, weil Schotten von Ungarn kaum zu unterscheiden sind. Beim Bruder tauchte die Frage auf, ob die beiden Körper überhaupt voneinander wussten.

In der Diskussion enthüllte der Autor, dass es sich um einen uralten Traumtext gehandelt habe. Mancher hätte sich etwas mehr literarische bzw. dramaturgische Gestaltung gewünscht, aber wir sind hier nicht bei Wünsch-Dir-was. Der Autor selbst fand übrigens, dass es ein kalter Text sei. Und W.E. warf ein, dass er auch Courths-Mahler gelesen hätte und fand den Wunsch nach mehr literarischer Gestaltung, um es mal höflich zu sagen, arrogant. Da ich den Wunsch geäußert hatte, werde ich in mich gehen und mich meinen arroganten Anteilen stellen, sie umarmen und als zu mir gehörig inkludieren, um nicht den unhöflichen Anmerkungen späterhin schutzlos ausgeliefert zu sein. Aber Courths-Mahler werde ich nicht lesen[1].

Mit der launigen schwer zu kapierenden anderthalbfachen Verneinung:

Ein Schotte ist kein Ungar,

das ist nicht mehr als unwahr,

leitete Leovinus zum nächsten Lesenden über.

Das war Michael Wäser mit dem Text „Eines Abends“. Georg, Klaus, Arthur und Jens, vier in die Jahre gekommene Literaturinteressierte treffen sich regelmäßig, um über Bücher, die sie gelesen haben, zu diskutieren.

Zunächst müssen jedoch die Schwierigkeiten des Treppensteigens in die vierte, fünfte oder sechste Etage überwunden werden, man wusste es nicht genau, gefühlt endlos, zumindest für Arthur, der schnaufend den noch deutlich fitteren Jens beneidete, der jedoch höflich sein Tempo anpasste. Es ging um Hautuntersuchungen, außerplanmäßige Op’s. Des Gastgebers Frau Rosa war auch dabei, die ab und an aus ihrer Dunkelkammer auftauchte. Man lachte und machte Witze übers Gendern, von denen einer so banal war, dass sie sich schier darüber totlachen wollten. Einer hat es geschafft. Sie lachen, sie husten, und dann bricht Georg zusammen, rutscht vom Stuhl. Es bleibt Rosa vorbehalten, das Ende seiner Lebensfunktionen festzustellen.

Klaus tröstet Jens nach einer Weile: „Es lag nicht an deinem Witz.“

Sie sitzen ratlos, wiederholen ungläubig den Witz, lachen wieder, sitzen still. Eine zauberhafte Geschichte darüber, dass man sein Leben möglichst im Kreis von Freunden aushauchen sollte. Denn das ist mein Gefühl, auch jetzt, da ich darüber schreibe: so will ich mal sterben. Beim Lachen über einen blöden Witz.

Dann war Wolfgang Eubel dran. Er trug ein Gedicht, das für sich alleine stand, aus einem wohl fünfzig Jahre alten Werk vor. Er trat ganz in Rot auf, und auch im Gedicht ging es um des roten Grafen Maus oder so. Für den Protokollanten ging das alles viel zu schnell, dazu noch Wolfgangs Stimme, die wie Donnerhallen über uns brandete. Notiert habe ich mir: bleiche Jungfer, … in welcher heißen Nächte Glut hast du, Drachentochter, die Kehle durchgeschlitzt … Träumen wollen von roten Mäusen, die den Berg anknabbern, dass er stürzt … und … weißer Mäuse Blutgericht. Grauen, Grauen, Grauen.

Ich wage nicht, dazu substanzielle Hinweise zu geben, könnte ich auch gar nicht, selbst wenn ich alle Arroganz aufbieten wollte, derer ich fähig bin. 😉

Dann gabs die Pause, in welcher alle fleißig ihr Bargeld an die Bar trugen, hoffentlich.

Verena, deren Nachnamen ich nicht weiß, die sich rege an den Diskussionen beteiligte, meldete sich, um sich am zweiten Weihnachtsfeiertag in die Annalen der Lesebühne als Themenbeauftragte einzutragen. Sie nahm gleich das erste geloste Thema: „Heinrich“. Da wird dann wohl die Gretchenfrage gestellt werden müssen. Wie hältst du es mit dem Gänsebraten!?

Wolfgang Weber überschüttete uns in einem Editorial, wenn ich es richtig verstanden habe, für „Innenwelten“ mit seinen bewährten Assoziationsketten, Edition 18 der … „sag ich jetzt nicht, wie die Zeitung heißt“.

So viel zu tun, alles, sofort, gestern, in Hektik und Panik in die Pause; Farben, Formen, zwei Gesichter, ausgewählt für euch; über die Schulter schauen, was ihr seht: Katharsis, Drama, Aristoteles, Freud – was will die Kunst? Alles und nichts. Das sind meine zugegebenermaßen wenig erhellenden Stichpunkte. Wie aufm Jahrmarkt, sagte jemand aus dem Publikum, und Wolfgang versicherte uns: stand noch viel mehr drin, lauter theoretische Dinge, habe ich alle rausgeschmissen. Kann nie falsch sein.

Die neu gekürte Themenbeauftragte Verena, Künstlername Vera, las „Kinder der Rebe“ – das war mal eine wunderbar nachvollziehbare, kleine Geschichte mit einem zauberhaften Twist am Ende. Ich fand sie an manchen Stellen etwas arg wunderblumig, falls jemand mit dieser Wortschöpfung was anfangen kann, aber auch sehr liebenswert.

Eine Traube, die erlebt, wie ihre Nachbartraube im Vorbeigehen gepflückt und verspeist wird, zittert vor Angst, dass auch ihr ein solch schnödes Schicksal beschieden sein könnte, wo sie doch eigentlich mindestens ein Jahrgangswein hatte werden wollen. Das klingt bisschen abgedreht, aber da jeder das Gefühl kennt, nicht das aus seinem Leben gemacht zu haben, was mal dringesteckt hat, kann man sich eben auch sehr gut dazu verhalten. Und dann die zitternde Erwartung, als die Ernte naht (der Tag des jüngsten Gerichts), aber statt zerquetscht und gekeltert zu werden, wird sie einfach liegengelassen, spürt, wie alle Flüssigkeit aus ihr weicht, sie langsam braun und schrumpelig wird und plötzlich, man ahnt es, zur Sultanine Rosine wird. Und auch dazu kann man sich verhalten, dass die Ziele im Leben manchmal geändert werden müssen, damit man zufrieden und glücklich bleiben oder werden kann. Aus dem Publikum kam die Bemerkung, dass die Traube ein bisschen größenwahnsinnig rüberkam, aber auch solche Momente hat wohl jeder schon mal erlebt, sogar ohne Einführung der Cannabispflicht. Ich bin gespannt, was da im Dezember nach Weihnachten zum Thema „Heinrich“ kommen wird.

Matthias Rische las die Geschichte „Ungeboren“.

An einem merkwürdig mystischen Ort zwischen Brandenburg und Berlin, nah an einer zwanzig Meter tiefen Schlucht, saß ein Mann auf einer Bank, neben sich eine Brotdose und eine Thermoskanne und gab schamanisch anmutende Laute von sich.

Der Singsang des Mannes lockte eine Frau an, die beim Aufstieg zum Plateau unter Luftmangel litt und, bei dem Mann angekommen, ihn erstmal um einen Schluck Tee bitten musste. Sie wolle sich von seinen gesungenen Gebeten erden lassen. Sie hat Schmerzen im Unterleib und sinkt auf die Bank.

Der Mann stellte sich hinter sie und legte ihr die Hände auf die Schultern, verkündet ihr nach einer Weile, dass sie ein Kind geboren und fortgegeben habe, das ihr noch heute Schmerzen verursache. Er geht respektvoll.

Sie kann sich erinnern: neun Jahre ist es her. Es war dann für mich etwas verworren, weil mir nicht klar wurde, ob das Kind bei einer Fehlgeburt verloren wurde oder durch einen Akt der Gewalt oder durch Freigabe zur Adoption nach der Geburt. Und dann stellte sie sich die Frage: Bis zu welchem Zeitpunkt kann eine Frau ein Kind verlieren? Am Ende steht sie auf dem Mäuerchen über der „Schlucht“ und lächelt ihr erstes zartes Lächeln nach Jahren. Man weiß auch nicht, ob sie sich aus dem Leben scheidend oder einfach so erlöst hat.

Zuletzt las Gwen, eine Neu-Berlinerin aus Holland, die ihre Gedichte bis dato nur ins Englische übersetzt hatte und zwei davon mit Verve vortrug. Mir fällt auf, dass in unserem ganzen Regelwerk nichts zur Sprache steht, in welcher die Lesebühne stattfinden sollte. Englisch wird in Berlin mittlerweile stillschweigend vorausgesetzt, und die, die es nicht können, sinken verschämt in ihre Sitze. Aber wie wäre es mit fränkisch? Oder vogtländisch? Ich vermute, wir würden bei polnisch oder tschechisch eine Grenze ziehen. Französisch sicher auch. Aber es ist gut, dass es zumindest eine Universalsprache wie Englisch gibt.

Gwen hat sehr deutlich und gut artikuliert vorgetragen, dass wir alle walkers, strollers, wanderers und runners on a rotating parallelogramm wären. Together we walk seperately. Und es ging noch um eine cup of tea aus chinese porcelain, mug of heat, evaporation around the earth. When your eyes are old, I want to sit with you. Da frage ich mich doch, was an young eyes schlecht sein soll, dass man nicht mit ihnen sitten[2] kann. Wahrscheinlich macht man mit jungen Augen was anderes. Im zweiten Gedicht ging es, den Arm durch eine Zeitung gesteckt, um mining on the moon. The moon is now a source. Romantiker sind rettungslos verloren. Statt sich um die Verschandelung ganzer Landstriche auf Erden zu mokieren, haben sie Angst, dass der Mann im Mond gestört werden könnte. Dabei ist mining on the moon bestimmt eine bessere Idee, wo es da doch schon kalt und unwirtlich ist – wenn nicht das kleine Problem mit den Raketen wäre, die man braucht, um den ganzen Schrott zu transportieren.

Nun, wie auch immer: hier geht es um Literatur, nicht um Politik, und schon gar nicht um Wirtschaftspolitik. Aber sie hat angefangen. Wir sehen uns noch zweimal in diesem Jahr: am 28.11. und am 26.12.

Ich freue mich drauf. Euer


[1] Obwohl sie sogar einen Roman „Griseldis“ geschrieben hat. Da könnte ich direkt schwach werden. Ich hatte mal eine Mitschülerin dieses Namens, die in den Siebzigern beim Schulgartenunterricht sich mit mir auf Diskussionen über die Existenz Gottes eingelassen hat. Ich habe mehrere solche Diskussionen im Leben geführt und bin immer als Sieger vom Platz gegangen! Überzeugt habe ich zwar keine(n) Gläubige(n), obwohl ich mich sehr überzeugend fand. – Ist es nicht schön, wie einfach beim Akkusativ von Gläubige(r) das Gendern ist? Träumchen! Obwohl: Gläubige geht ja noch, aber Gläubiger? Am besten: die Glaubenden. Da stimmt die Verlaufsform immer.

[2] Ich beobachte eine neue Welle der Eindeutschung englischer Verben. Man konjugiert: Ich sitte, du sittest, er/sie/es sittet, wir sitten, ihr sittet, sie sitten. Wir haben gesittet und werden uns gesittet benehmen.

Das Wunderland Sonochnienien

Die 170. Offene Lesebühne SoNochNie! war eine besondere. Wir feierten unser Dreizehnjähriges aus dem März nach. Damals haben wir uns wegen Corona nicht so recht getraut. Jetzt also war es so weit. Dreizehn langjährige Stammautorinnen und Autoren hatten einen maximal sechs Minuten langen Text zum Thema „Öfter und länger kommen“, das der Kernmannschaft in einer wahrscheinlich weinseligen Laune zugeflogen war, geschrieben.

Zunächst jedoch setzte sich die der Lesebühne innig verbundene Ute Danielzick ans Klavier und spielte unsere Hymne, die sie einst zur 99. Lesebühne für uns geschrieben hatte. Denn ja: wir sind die Lesebühne mit der Hymne, ein zart-melancholischer, Mut machender Song, der mir an verschiedenen Stellen immer wieder die Tränen der Rührung in die Augen treibt. Liebe Ute: Danke dafür.

Leovinus führte uns durch diesen besonderen Abend, und als launiges Jubiläum zu Beginn hat er den 13. Jahrestag der Offenen Lesebühne SoNochNie! in seinen reichhaltigen, sich selbst fortschreibenden Folianten gefunden. What a surprise!

Man hörte die Feder des göttlichen Archivars den ganzen Abend buchstäblich kratzen. Terry Pratchett ließ grüßen.

Aber nun ging es los, atem- und fast pausenlos durch dreizehn Texte. Es begann mit Petra Lohan und „Läufens Weg ins Slow Sex Debüt“.

Ich finde ja, sein Debüt auf dem Gebiet des langsamen Genießens der sinnlichen Freuden kann der Mensch nicht früh genug haben. Petra stellte uns aber einen Mann namens Läufen vor, der viel mit Selbstoptimierung beschäftigt war, Treppentraining usw., der dabei eine ungesunde Besessenheit an den Tag legte, und folgerichtig erlitt Läufen einen Kollaps, als Marianne ihn ansah. Er musste mit Tatütata ins Krankenhaus, wo Marianne ihn besuchte, und Slow Sex wurde es alleine deswegen, weil man Rücksicht auf die Schläuche und Zugänge nehmen musste.

Petra bekam (wie jede(r) Lesende an diesem Abend) von Leovinus eine Urkunde als Themenbeauftragte(r) des Tages, Micha machte ein Foto, das er mit seinem kleinen Wunder-Polaroid-Drucker sofort materialisierte und dem/der Fotografierten aushändigte, ein kleines Unikat in Schwarz und Weiß und das will ich hier mal würdigen, was dem Michael Wäser immer so an kleinen Aufmerksamkeiten einfällt, die wie ein Basilikumstängel, eine Zitronenscheibe, eine Vanillestange, eine Prise Salz oder ein paar Körner roten Pfeffers dem Abend erst die Würze geben.

Als zweiten Lesenden zog Leovinus Stefan Franken aus der Lostrommel, dessen Gedicht „Gepupst und gegendert“ – oder hieß das gar nicht so, war das nur der Disclaimer, den Stefan vorwegschickte, das in seinem Gedicht eben gepupst und gegendert würde.

Ich glaube, es war nur der Disclaimer. Alle wollten sich dieser Herausforderung stellen, niemand verließ den Saal. Und es war wie immer bei Stefans Gedichten sehr vergnüglich. Mir hat es so gut gefallen, dass ich völlig versäumt habe, mir etwas zum Inhalt zu notieren. Aber das macht nichts. Ich finde, Pupen und Gendern gehören zusammen, weil es ja der schwerwiegendere Teil der Erkenntnisse eines jungen Mannes im Leben ist, dass auch Frauen … nun ja … ähm … nicht immerzu nur nach Rosenblüten und Flieder duften.

Dann gab es einen der vielen musikalischen Höhepunkte des Abends: die beiden jungen Nachwuchsmusiker Johann Faust und Ernst Krämer gaben auf ihren Waldhörnern ein kleines Duett von Mozart zum Besten. Vielen Dank an Euch zwei,

ihr habt unserem Fest

die Krönchen aufgesetzt.

Leovinus zog sich selbst aus der Lostrommel. Er las einen Text über die Hans-Inseln, ein Vorbild, wie man Territorialstreitigkeiten zwischen zwei Großmächten lösen kann, wenn nur ein bisschen guter Wille und genügend Alkohol im Spiel sind.

Wie wichtig so kleine Eilande sein können, sehen wir ja gerade an der Schlangeninsel. Aber da geht es ums Schwarze Meer, wo es schön warm ist. Die Hans-insel ist ein unwirtlicher Felsklumpen zwischen Grönland und Kanada, also nichts, was man nicht mit einer Flasche Gammel Dansk und einem Whiskey unter Brüdern fair aufteilen könnte. Soll ja mittlerweile Großmächte geben, die Eilande aufschütten, um sie dann beanspruchen zu können. Wahrscheinlich ist das alles immer nur ein stummer Schrei nach … einem guten Obstler.

Der vierte Lesende war Max Ludwig. Sein Text nannte sich „Türkise Fensterrahmen“. Das Thema „Öfter und länger kommen“ bezog er auf den Kontrollverlust im Alter, wenn immer öfter und immer länger unangekündigt Leute in eines Menschen schwindende Privatsphäre eindringen.

Seine Mutter kündigt den nahenden Tod eines Verwandten an, indem sie dem Ich-Erzähler mitteilt, dass er sich keine Gläser mehr kaufen brauche – würden bald welche frei. Frage ich mich sowieso, jetzt, wo so viele junge Leute wieder bauen, was aus den ganzen Häusern werden wird, wenn die Babyboomer (also wir) alle abgenippelt sind. Riesige, ausgestorbene Einfamilienhaussiedlungen, die von den Akteuren kommender Völkerwanderungen bezogen werden können. Solche Gedanken kamen mir bei Max‘ Text.

Johann Faust brachte uns ein kurzes Klavierstück von Schumann zu Gehör,

bevor Leovinus Michael Wäser aus der gebogenen Amiga-Schüssel fischte. Micha ließ seinen Helden öfter und länger zu dm gehen, wo er einen kleinen Parforceritt durch die Werbesprüche der Dusch- und Waschmittelhersteller unternahm – Markennamen aufrief, wie Miele, Dr. Oetker oder Heckler & Koch.

Der Text fand viel erheiterte Zustimmung, weil halt Werbung unser aller Leben, selbst im Osten, geprägt hat, ich erinnere bloß mal an das Malfa Kraftma Brot – und? Hat da wer gleich den Jingle im Kopf? Das würde heute auch sehr gut zu dm passen.

Matthias Rische kam auf die Bühne und es wurde düster und morbide:

Körper ohne Form, willenloser grüner Stoff, zur Zweidimensionalität degradiert. Hände, die ein Leben lang zähen Teig geknetet haben, kneten nur noch Luft und Zeit. Worte waren genug gesagt und haben nie ausgereicht. Und am Ende fließt aus dem Auge nach Jahren der Trockenheit noch eine Träne. Ich sah den Ritter von Kahlbutz vor meinem geistigen Auge.

Daraus rettete mich ein Waldhorn-Duett von Mozart.

Vor der Pause las noch Andrea Maluga von einem Blumenladen im Friedrichshain, der eigentlich eine Alien-Zentrale ist.

Die Not der Inhaber besteht nun darin, dass sie wieder weg von der Erde müssen. Sie wissen nicht, ob ihre Haustiere auf Darson 17 mittlerweile erlaubt sind. Sie machen aus einer Kartoffel siebenhundert, regen sich über das Mistblatt „Space Guardian“ auf, bedauern die unterentwickelten Geschmacksnerven irgendwelcher Gäste und wurden noch von einem schrecklich berlinernden Klonkenvogel besucht.

Es gab eine Pause. Wir schwatzten und tranken. Und Petra Klingel aus Spandau nutzte die Zeit, in sich zu gehen, und sich als Themenbeauftragte für den Monat August zu bewerben, Danke, Petra. Als Thema zog sie „Gleichklang“. Viel Spaß beim Schreiben.

Katharina Körting sprang aus dem Lostopf – und las „Im Warteraum“. Es ging um die Sehnsucht nach Berührung – und die hat dieser Text erfüllt, jedenfalls für mich am stärksten an diesem Abend.

Wie ihr Körper liebte und sich lieben ließ, Furcht vor den Bedürfnissen der Haut verspürte. Vor allem liebte sie das Warten. Irgendwann kam er doch noch und legte seine Verlegenheit großspurig auf den Tisch– ein zauberhaftes Bild, vor allem, weil sie ihre gleich dazulegte. Am Ende, resümierte das Ich, wird das Warten das beste gewesen sein. Am Leben bleiben hieß: im Warten bleiben.

Johann spielte danach etwas Drastisches am Klavier, als wollte er der Wartenden auch ein wenig Zorn mitgeben.

Arved Wolf las „Ofenfrische Brötchen“.

Mit dem wunderbaren Satz: Dich kennen sie hier alle, mich mustern sie nur.

Ein paar endlose Nächte

Ein paar Schritte zu zweit

Ich weiß, dass du da bist.

Komm, rede mit mir.

Angela Bernhardt hatte sich dem Thema auch über Aliens genähert.

„Das große Experiment“ hieß ihre Geschichte, die Menschheit als Versuch, der gelungen ist, wenn wir es schaffen, friedlich zusammenzuleben. Darüber soll der oberste Seelenrat wachen. Zwei der Laboranten, so ordne ich sie mal ein, Ratta und Sabet, sondern sich ab, probieren das Leben. Es vergeht die Zeit: 18 Jahre, 25, schließlich 150. Sie hat der oder das Viralvirus befallen, ein Haufen Kinder ist daraus entstanden. Es hatte etwas Hoffnungsfrohes, dass Angela auch in 150 Jahren noch Leben sah.

Endlich las ich, Frank Georg Schlosser, meinen Dialog mit meinem Tod.

Denn, das war die große Erkenntnis aus der Arbeit an diesem Text: jeder hat seinen eigenen. Was bedeutet, dass er (der Tod) wenig bis gar nichts zu tun hat und viel warten muss, bis er eines Tages das letzte Lichtlein auspustet. War ein eher augenzwinkerndes Plädoyer für einen immer öfteren und immer längeren inneren Dialog mit dieser kleinen Unvermeidlichkeit.

Schließlich gab es von unserem Hornduett des Abends Johann und Ernst den letzten Mozart (wird es einen Tag im Leben der Menschheit geben, an dem der letzte Mozart gespielt worden ist?),

bevor Wolfgang Weber drankam, der etwas aus dem Öff Öff las. Lost in Transöffilation.

Er nahm in seine Begriffe-Kompilation mehrmals Bezug auf die dreizehnjährige Geschichte der Lesebühne (Tresen auserlösen), schreckte aber auch vor Langnasen nicht zurück oder Strang und stränger, um mit dem Wunderland Sonochnienien zu schließen, das bestimmt auch demnächst der Nato beitreten wird.

Nun zog Leovinus das letzte Los, obwohl klar war, dass es nur Gudrun Sonnenberg sein konnte, die noch in der Los-Schallplatte hockte. Sie las von einem Mann, der seiner Hüfte schwingenden Frau beim Kochen zusieht und sich wünscht, dass sie ihr eigenes Essen einmal genießt.

Er zieht den Moment hinaus, muss nochmal um die Ecke, drei Minuten steht er im Klo, damit sie zur Ruhe kommt, den Duft der wunderbaren Sauce riecht, möchte, dass die Aromen es schaffen, den entrückten Ausdruck auf ihr Gesicht zu zaubern, den er so lange nicht gesehen hat. Es gelingt nicht, sie schaut auf ihr Smartphone, als er doch zurückkommt, und irgendwie möchte ich dem Manne zurufen: auf dem Klo rumstehen oder in den Keller gehen Wein holen sind keine Wege, einer Frau einen entrückten Ausdruck aufs Gesicht zu zaubern. Aber ich saß im Publikum. Mir war der Weg in Gudruns Geschichte nicht möglich.

Alle Lesenden und die MusikerInnen kamen nochmal auf die Bühne. Irgendwer schmiss die von Micha neu erworbene Seifenblasenmaschine an. Und das Ding machte nochmal richtig was her. Als stünden wir zum Abschlussvorhang vor tausend Zuschauern, waren wir umhüllt von im Licht sich spiegelnden, in Millionen Farben changierenden … ja … Seifenblasen, was nach einer Weile den Bühnenboden etwas rutschig machte.

Aber: !!! Es gab keine Unfälle. Ein zauberhafter Abend, den wir mit einem Glas in der Hand vor dem Zimmer 16 noch ausklingen ließen, ging zu Ende.

Danke, Zimmer 16! Auf die nächsten dreizehn Jahre – das scheint mir durchaus ein Wunsch zu sein, dessen Erfüllung nicht völlig unrealistisch ist.

Erstmal bis zum vierten Montag im Juli 2022, das müsste der 25.7.2022 sein.

Euer

Speed dating mit So noch nie

SoNochNie sticht in See: Bei der Hafenrevue des Literaturports im Literarischen Colloquium Berlin am 1. Juli ab 18 Uhr sind wir zum ersten Mal mit an Bord. 15 Minuten haben wir und die anderen Berliner Literaturveranstalter jeweils Zeit, sich vorzustellen. (SNN wird vertreten durch Angela Bernhardt, Leovinus, Petra Lohan, Frank Georg Schlosser und Michael Wäser) Mit der Frist von 15 Minuten kennen wir uns ja bestens aus und haben uns daher entschieden, alles so zu machen wie immer. Fast. Und viel kürzer. Wir nennen es das literarische SPEED DATING. Wie das genau abläuft, könnt ihr am 1. Juli abends am schönen Wannsee in zauberhafter Umgebung erleben. (Wenn wir das Plakat richtig deuten, gibt es sogar die Möglichkeit für Tattoos. Wahre Freunde von SNN werden sich also unser Sanduhr-Logo stechen lassen, das steht fest.) Programm und Tickets gibt’s hier. Unser 15min-slot beschließt das literarische Programm der Hafenrevue: Ab 20.45 Uhr heißt es SPEED DATING mit So noch nie. Danach Live-Musik mit Aurélie Maurin & Dominic Sell.

Schreiben dauert länger als Lesen

Die 167. Lesebühne SoNochNie! nutzten wir

  1. um darauf hinzuweisen, dass Selbige vor nunmehr 13 Jahren noch im Studio zehn sechs Häuser weiter ins Leben gerufen worden ist. Der Moderator Leovinus war auf alle Fälle damals schon dabei. Und
  2. um unsere aus diesem Anlass herausgegebene Anthologie „Unten ist noch Glut“ vorzustellen. Zehn Autorinnen und Autoren, die die Kernmann/frauschaft der Lesebühne bilden bzw. regelmäßig bei uns lesen, haben aus ihrem Schaffen je zwei Kurzgeschichten oder sechs Gedichte zur Veröffentlichung dankenswerterweise zur Verfügung gestellt. Die Anthologie kann als Taschenbuch oder als E-Book bei Amazon oder Thalia oder zur nächsten Lesebühne gekauft werden.

Ansonsten begann Leovinus wieder mit einem dieser absurden Jubiläen, die er in mühevoller Kleinarbeit in alten Bibliotheken und großen ledergebundenen Folianten zusammensucht, nämlich dem 1829. Jahrestag der feierlichen Erschlagung des Kaisers Pertinax. Ich habe mir noch als Stichwort das Vierkaiserjahr aufgeschrieben, aber da kann was nicht stimmen, denn das ist schon 1953 Jahre her. Wer das für sich klarkriegen will, versuche sein Glück bei Wikipedia.

Themenbeauftragter war ich, Frank Georg Schlosser, mit dem Thema „Dreizehn“. Ich nutzte die Gelegenheit, auf das Erscheinen meines neuen Romans „Verfluchter Weißer Mann“ hinzuweisen, den man gleichfalls käuflich erwerben kann und der zeigt, wie man die Geister der Vorfahren versöhnen kann, damit sie einem nicht den Schlaf rauben. Sehr nützliche Lektüre also.

Die Geschichte zum Thema Dreizehn hieß „Das Podest“ und handelte von einem Skelett, das beim Abriss eines jahrzehntealten Podestes von Dennis gefunden wird und die Frage aufwirft, wer das damals da hingelegt hat. Dennis hat Bert im Verdacht, damals die schöne Olivia getötet und unter dem Podest entsorgt zu haben, aber Bert meint, das habe Dennis im Suff damals selbst erledigt. Leovinus zog die Lehre aus dem Gelesenen:

Interessiert ihr euch für alte Reste,

schaut nicht unter die Podeste.

Als zweiter Lesender wurde Wolfgang Weber gelost. Es ging diesmal um Promenaden, Modest Mussorgski, auf dem Bahnhof ausgerufene Eltern, die so davon erfuhren, dass ihr Sohn sich verspätete. Wieder mal wurde die Frage aufgeworfen, welcher Art Wolfgangs Texte wären – und seine Antwort: es sind rhythmische Texte, damit bin ich aus dem Schneider. Aus dem Publikum kam die Definition, dass es ein Gedicht sei, wenn viel Weiß um die Wörter wäre. Aufm Papier siehts aus wie ein Gedicht, stellte Wolfgang daraufhin fest. Leovinus‘ Überleitung:

Wolfgang war zu spät wohl da,

dort in Hamburg Altona.

Dritter Lesender war Michael Wäser. Sein Text führte zu milden Verwerfungen, aber dazu weiter unten. Micha las aus seinem Projekt, in dem eine Mutter aus der Zukunft an ihre Kinder, ich sage mal über die Menschheitsgeschichte schreibt. Diesmal ging es um einen Jugendlichen namens Charles, der sich vor dem Erbrechen fürchtete. Ihn befiehl Todesangst, wenn ihm übel wurde. Charles war ein begeisterter Käfersammler. Und einmal fand er einen außergewöhnlichen Käfer nach dem anderen, so dass er den letzten mit dem Mund fangen musste – der Käfer sonderte zur Verteidigung ein Sekret ab, was Charles leidenschaftliche Käfersammelwut und seine Emetophobie (!) in den allerheftigsten Konflikt brachte.

Allerdings erwähnte Charles (und damit Micha) am Anfang die Bibel, sprach über die Ahnungslosigkeit deren Verfasser, was nun wieder unseren Oberbibelkritiker auf den Plan rief, der die Aneignung uralter Mythen der Menschheit durch die Bibelverfasser mit dem Raub eines Rembrandt durch Göring verglich. Es ging ihm wohl darum, dass die Bibel eine Art Raubkunst ist. Und wenn man sich ihrer bedient, wird man schnell zum Antisemiten oder so ähnlich, und vor dieser Gefahr wollte er den Verfasser wohl warnen.

Vergebliche Liebesmüh, kann ich nur sagen: seit Henryk M. Broder („Der ewige Antisemit“) weiß ich, dass vor dieser Gefahr niemand gefeit ist, nicht mal der oberste Oberbibelkritiker. Die unerquickliche Diskussion wurde von Leovinus beendet mit:

Ist es auch zum Übergeben,

die Evolution bestimmt das Leben.

Dann wurde der Themenbeauftragte für den Mai gewählt. Anton, dessen Nachnamen ich erfragt, aber nicht notiert habe, lehnte als Thema „Taumeln“ ab und muss nun „Löwe im Park“ nehmen.

Die erste Lesende nach der Pause war Katharina Körting. Sie griff sich die eingangs erwähnte Anthologie und las ihren Text „Immer grün“ – in dem geht es darum, dass es besser geht, wenn man schreibt. Wenn man schreibt, dann ist ich nicht nur ich.

Kann ich nur bestätigen. Wer den Text nachlesen will, lege sich die Anthologie zu, es lohnt sich, besonders auch dieser Text. Man sollte ihn laut und langsam lesen. Es ist zwar nicht ganz so viel Weiß um die Buchstaben, trotzdem ist er in seiner Dichte nahe am Gedicht. Mit den Worten

Fühlt man sich auch manchmal leer,

weniger ist niemals mehr.

zog Leovinus den vorletzten Lesenden aus dem Hut:

Michael Wiedorn.

Sein Text hieß „Zurück ins Feuchte“ und es ging um des Erzählers alten Ekel vor seinem Vater, dessen alles Leben einschläfernde Gleichgültigkeit, die bösartige Kälte seiner Augen, die aus dem Schädel springt. Alkohol zersetzt das Fleisch. Mein Vater war früher Mensch und hat sich in einen alles zersetzenden Schimmelpilz verwandelt.

Auf eine Frage aus dem Publikum sagte der Autor: Schreiben dauert länger als ich gelesen hab. Mit dem Reim

In des Schiffes dunklem Bauche

zu den Abgründen ich tauche

leitete Leovinus zum letzten Lesenden über, nämlich Matthias Rische, der einen zahmen Text mit dem Titel „Kernfamilie“ versprach.

Er handelte von Claudio, dem Vater, der eine Mispel mit dem Messer teilte. Dann war da noch seine Frau Ilinia und der Sohn Kasim, sowie eine Spieluhr, die ein traditionelles ägyptisches Schlaflied spielte. Vor dem Fenster nahm ein Mispelbaum das Licht. Mit dem Mispelbaum hatte ich so meine Not, aber er scheint früher eine weit verbreitete Kulturpflanze gewesen zu sein, und im Saarland heißt er Hundsärsch. Der Konflikt im Text kulminierte in dem Satz: Geh pflanzen, du Bauer, damit du noch mehr ägyptische Hurensöhne zeugen kannst. Mit dem aufmunternden Spruch

Bei der Dinge tiefstem Kern

liegt das Grauen oft nicht fern

schickte uns Leovinus in die dunkle Nacht hinaus.

In der Hoffnung, dass alle gut zuhause angekommen sind, verbleibe ich

Euer

Halsbandaffäre

Die 160. Lesebühne SoNochNie! begann mit dem 230. Todestag von Jeanne de Saint-Rémy, die „berühmt“ ist für den Halsbandskandal. Allerdings wurde sie im Alter von Gläubigern verfolgt, sprang auf der Flucht aus dem Fenster, brach sich beide Beine und das Becken und starb kurze Zeit später als eine „Schmerzruine“. So elegant leitete Leovinus zum Thema des Abends über.

Leovinus führte wie immer souverän durch den Abend

Der Themenbeauftragte Michael Wäser war selbst nicht anwesend. Er hatte den Text eingelesen und Angela hielt das Handy vor das Mikro und wir hörten das Gedicht „Schmerzruine oder Das Ende der Welt“. Es ging um einen Rennwagen, der offenbar infolge eines Unfalls vom Wege abgekommen ist – und der Erzähler möchte die darin eingeschlossene Ohnmächtige heiraten.

Das ist aber reine Spekulation. Es wirkte in der Diskussion nicht so, als hätte irgendjemand das Rätsel lösen können. Denn ein solches ist das Gedicht, obwohl Kopien zum Nachlesen verteilt wurden, für mich geblieben.

Angela Bernhardt vertrat den Themenbeauftragten Michael Wäser

Danach las Max einen Text über das Wort. Er erhob es … nachdem es ihm runtergefallen war, als er den Tisch abwischte. Er beschreibt seine Not mit dem Putzen und mit den Kratzern, die es am Ende aufweist – ein Gebrauchswort war es geworden.

Max beschrieb seine Not, Krümel vom Wort abzukratzen

Lutz Mantel, ein Zimmer-16-Urgestein, las das erste Mal etwas auf dieser Bühne, nämlich eine Beschreibung seiner Reise nach Kolberg, eine Reise voller Widrigkeiten und zu teurer Bockwürste. Man ermutigte ihn in der Diskussion, den beteiligten Personen größere Aufmerksamkeit zu widmen.

Lutz bei seiner Lesebühnenpremiere

Der letzte Lesende vor der Pause war ich. Mein Text hieß Prüffall!!! – und handelte davon, was geschieht, wenn unkorrektes Verhalten in Zukunft zur Löschung der digitalen Existenz durch das Ordnungsamt führt. Es war ein dystopischer Beitrag zur bevorstehenden Bundestagswahl, allerdings ohne direkte Wahlempfehlung.

Frank fürchtet die digitale Annihilation

Nach der Pause erklärte Ute Danielzick sich bereit, im Oktober die Themenbeauftragte zu sein. Sie nahm gleich das erste Thema: „Selbstbedienung“. Viel Spaß beim Schreiben, liebe Ute.

Leovinus zog Wolfgang Eubel aus der Schüssel. Sein Text hieß „Philosophische Nachlese“ – und wie sich herausstellte, war es erneut eine Reaktion auf Reaktionen der letzten Lesebühne, bei der er auch schon einen Reaktionstext auf Reaktionen der vorletzten Lesebühne vorgetragen hatte. Der Text war sehr kurz, und er zeigte uns anschließend, dass er geformt war, das heißt: auf Papier ähnelte der Text einer geometrischen Figur. Ich dachte: Stringtanga, aber: es sollte ein erwürgter Schriftsteller sein. So kann man sich irren.

Man ahnt an dem unter die Uhr geklemmten Papier die Form von Wolfgangs Text

Anschließend las Petra aus einem längeren Projekt. „Bis die Vögel ermatten“. Ich muss gestehen, dass ich nicht viel verstanden habe. Max war fasziniert von der Dichte – es wäre Schlag auf Schlag gegangen, vielleicht zu viel gewesen. Katharina war beeindruckt von der Freiheit, die Petra sich in der Ermächtigung der Sprache genommen hat, sie nannte sie Sprachhauerin. Matthias und Martin waren wie ich als Zuhörer überfordert. Petra fragte, ob Berlin zu erkennen gewesen wäre. Max meinte, er hätte eher Urwald assoziiert. Das, finde ich, passt dann schon wieder.

Petra tummelte sich mit ihrem Text im Urwald Berlin

Danach las Katharina „Remote“. Remote ist ein Wort, das ich hauptsächlich mit Fernbedienung zusammenbringe. … Sie sang „Über den Wolken … muss die Freiheit wohl grenzenlos sein“, mit einer sehr großen Sicherheit in der Stimme, und dann ging es Schlag auf Schlag: eine Pointe jagte die nächste, aufgehangen an der Unsicherheit vor einer Videokonferenz. Am Ende ging es um die Maschinen, die dich isolieren, während sie vorgeben, dich zu mit anderen zu verbinden. Ich fand den Text toll.

Katharina zündete ein Feuerwerk an Pointen über das Altern auf Zoom-Konferenzen

Es las Matthias als letzter eine Geschichte mit dem Titel „Spät“, in der es um einen Jungen ging, der mit anderen Jungen eine komische Alte hänselte, von der sich später herausstellte, dass es seine Oma war. Von da an besuchte er sie allein, erzählte ihr aus der Ferne von seinem Erwachsenwerden, von seinen Erfolgen und seinen Nöten und brachte ihr zu essen. Als sie dann starb, wollte er mit seiner Freundin, die allerdings noch nicht wusste, dass sie seine Freundin war, eines Tages in das verlassene Haus am Walde ziehen.

Ich fand, dass es eine sehr schöne Lesebühne war, voller Überraschungen, was ein solches Protokoll tatsächlich nur eingeschränkt vermitteln kann. Besser ist: selber vorbeikommen, das nächste Mal am 27. September 2021 im Zimmer 16.

Euer

Wir sind wieder (genau) da!

Seit langer Zeit die erste Offene Lesebühne So noch nie wieder offline und live im Zimmer 16! Ein tropisch warmer Sommerabend, nette Gäste, ein kühles Getränk und neue Texte – was will man mehr? Höchstens baldmöglichst die Befreiung von Testpflicht und Zuschauerbegrenzung, die vom Team des Zimmer 16 konsequent eingehalten wurden.

Die Freude über die Heimkehr aus dem unfreiwilligen Asyl bei „Zoom“ ins Zimmer 16 stand nicht nur Moderatorin Angela Bernhardt ins Gesicht geschrieben (siehe Foto). In Anlehnung an Leovinus, den sie heute vertrat, richtete sie die Aufmerksamkeit nicht auf Jubiläen, sondern auf Nicht-Jubiläen des Tages, also Dinge, die an einem 28. Juni noch nie passiert sind. Welche sie präsentiert hat, sei hier nicht verraten, aber vielleicht finden Sie ja selbst welche heraus und schreiben für die nächste Lesebühne eine epochale Geschichte darüber.

Der erste Lesende natürlich: der Themenbeauftragte. Der hieß Matthias Rische und sein Thema lautete: „Blitzkurs“. Der Erzähler trieb sich dafür auf einem Friedhof herum, dessen Namensgeberin ein heilig gesprochenes minderjähriges Vergewaltigungsopfer ist. Das klingt jetzt alles zusammen ziemlich gruselig, aber obwohl der Erzähler dort nur spaßeshalber herumlief, um eine Frau kennenzulernen, und die eine, die er ansprach, gerade Hochprozentiges zu sich nahm, nahm die Geschichte keine üble Wendung. Stattdessen war sie voller origineller Beobachtungen und Gedanken, und dass die Frau sich sehr bald vom (Gottes-)Acker machte, hinterließ keinen Gram: Der Blitzkurs im Flirten garantiert keinen schnellen Erfolg und das Leben, es geht weiter.

„Er ist noch oben“ hieß Gudrun Sonnenbergs Geschichte. Sie passte zu den Sommertemperaturen, denn eine Frau joggt trotz Hitze durch die Stadt, möglichst unter kühlenden Parkbäumen. Doch auf dem Heimweg, schon an der Grenze der Erschöpfung, muss sie erkennen, dass es in ihrer Straße brennt. In ihrem Haus? Ihrer Wohnung? Der Schrecken, der sie durchfährt, treibt sie wieder an, ihr erwachsener Sohn schläft noch, „oben“ in der Wohnung, und sie hat die Tür abgeschlossen, als sie zum Laufen ging. Doch ein anderes Haus brennt, ihre Sorge war unbegründet. Der Schrecken bei den Zuhörern aber legt sich erst, als der junge Mann auf ihr Klopfen an der Zimmertür reagiert.

Die erste Lesebühne im Zimmer 16 IN DIESEM JAHR (!) hatte nicht nur ein, sondern zwei Debüts zu bieten. Das erste: Petra Schick und ihr Langgedicht „Als ob der Tod nie kommt“. Wie meistens bei Lyrik, erschlossen sich ihre enorm assoziationsreichen und gedankentiefen Zeilen nicht beim einfachen, ersten Zuhören, darüber waren sich alle einig. Deshalb machten wir den Vorschlag, es auf unserer Website zu veröffentlichen, und Petra sagte zu. Hier können Sie sich in ihren kunstvollen Mental-Strom werfen und schauen, denken, assoziieren. Danke, Petra!

„30 Jahre Abitur“ war der Titel von Katharina Körtings Text, eine „Hommage an das bestandene Abi“ ihres Sohnes. Und eine Gedanken- und Erinnerungsverbindung an eigene Abi-Zeiten, wie auch die Anfänge des eigenen Schreibens. Denn aus der „Diktatur des Lesens“ hat sich die junge Abiturientin dereinst nur schreibend befreien können, Buchstabe für Buchstabe „zurück zu mir“. Und trotzdem stellte sich Scham ein über das Geschriebene – eine Erfahrung, die sicher viele kennen, die mit dem Schreiben beginnen. Doch ihr Schreiben hat auch „das Lesen gerettet“. Der Befreiungsakt des Schreibens, auch den kennen sicher viele, die sich den Worten anheimgeben. Entsprechend wurde im Publikum auch viel darüber diskutiert und von eigenen Erfahrungen berichtet.

Das nächste Lese-Los fiel auf mich, Michael Wäser. Da ich die Arbeit an einer Erzählung, aus der ich eigentlich vorlesen wollte, gerade unterbrochen habe, legte ich zur Entschuldigung den Grund für die Unterbrechung auf den Lese-Tisch: Mein neuer Roman ist nämlich gerade erschienen. „Das Wunder von Runxendorf“ erzählt eine grausame Geschichte in einem saarländischen Dorf während der Fußball-WM 1974. Zwischen all der Grausamkeit blühen nur wenige zarte Blumen und sogar das titelgebende Wunder ist eines von der dunklen Sorte. Hier verrate ich nicht, worin es besteht, am Abend las ich aber genau dieses zentrale Kapitel vor.

Gerhard Gruner war der zweite Debütant des Abends. Seine Geschichte „Der Schlüsselbund“ erzählte, wie ein verkaterter Student eine Eroberung macht, oder besser, gemacht hat, denn er erinnert sich am nächsten Morgen nicht daran. Nur der fremde Schlüsselbund in seiner Tasche macht ihn neugierig, und er fahndet nach der dazu passenden Tür. Die wird ihm dann auch weit und bereitwillig geöffnet. Aus dem Publikum kamen Lob für die Idee und Anregungen, die Sprache des Textes lebendiger zu gestalten, denn ein humoristischer Text lebt stark davon.

Siebter Lesender: Wolfgang Weber. „Die Konferenz“ war ein großer Wort-Spaß auf „-enz“. Eine Lawine von auf „-enz“ endenen Wörtern ergoss sich von Wolfgangs Tisch, locker geordnet um die Erzählung einer legendären Koblenzer „Konferenz zur Quintessenz„. Schwindelig wurde einem bei diesem Wirbel aus Enzen, lustig war’s außerdem, gewitzt und eigenwillig. Und damit ging diese schöne Juni-Lesebühne mit angemessener Eloquenz zuende.

Ach so: Niemand wollte August-Themenbeauftragte/r sein, also erklärte ich mich bereit. Mein gelostes Zuschauerthema, an dem ich vermutlich zu knabbern haben werde: „Schmerzruine“ (Ich hatte das erste Los „Prinzessin Lillifee“ verschmäht und musste nun das zweite annehmen). Wir danken dem Team des Zimmer 16 für sein Durchhaltevermögen im Lockdown und seine Gastfreundschaft und freuen uns auf den 26. Juli, wenn Frank Georg Schlosser als Themenbeauftragter seinen Text zum Zuschauerthema „Teufelskreis“ vorstellen wird.

Irgendwie ist doch immer Geburtstag

 

Jedenfalls bei SoNochNie. Am 28. Oktober 2019 haben wir dank Leovinus den 782. Geburtstag von Cölln an der Spree gefeiert, denn „In Berlin vor langer Zeit machten sich die Cöllner breit“, so dichtete er. Und was reimt sich besser auf „Gefluche“ als die themenbeauftragte „Wohnraumsuche“? Danke, Leo! Für diese elegante Einleitung gibt‘s auf jeden Fall eine ohrgepinselte Moderatorenurkunde.

Matthias übernahm den Staffelstab und berichtete unter dem Titel „Vom Suchen und Vergessen“ mit leiser Melancholie, aber keineswegs schwermütig von den Nöten seiner ersten jugendlichen Wohnraumsuche. Das war 1983 im mauergeschützten Westberlin. Mit der Morgenpost unterm Arm und klammheimlich. Die fürsorglich-dominanten Eltern (oder war es nur die Mutter?) hätten wenig Verständnis aufgebracht für seinen Ausbruchsversuch aus dem trauten Lankwitzer Heim. Doch unterwegs zum Besichtigungstermin befällt ihn Panik: Würde er nicht – sowie einmal ausgezogen – im Handumdrehen vergessen werden? (Denn: „Wer solche Eltern hat, der hat auch keine Freunde.“) Und dafür, so traf ihn brutal die Erkenntnis, war er dann doch noch nicht bereit. Also husch, zurück ins Körbchen und aufgeschoben den vorwitzigen Plan. Nach Abschluss seiner Tischlerlehre würde die Welt bestimmt schon ganz anders aussehen … Viel positives Feedback gab‘s für diesen Beitrag und natürlich die berühmte Ehrenurkunde.

Dann betrat der Elmar – Premiere, hört, hört! – die Bühne mit Gitarre und trug Lyrisch-Prosaisches in der Tonart „Pullmoll“ zum Thema „November“ vor: „Lausiges Novembernass sickert ins Gemüt …“ Da ist Oma Fähnchen mit einem Blumenstrauß unterwegs zum Grab ihres verblichenen Heinrich und wird – das Leben steckt voller Widrigkeiten – von den frechen Blütenstängeln „in die Titten“ gepikst. Vielleicht ist sie so alt wie Pippi Langstrumpf jetzt wäre, die womöglich als Pippi Strützstrumpf im Altersheim von Taka-Tuka-Land lebt, sinnierte der Autor. Bezüglich Oma Fähnchen schloss er mit den Zeilen: „… und sie sehnt herbei voll Schmerz a) die Weihnacht, b) den März.“ Als wäre das nicht Unterhaltung genug, gab‘s noch ein Chanson über einen Torero ohne Tiefsinn obendrauf. Immer wieder gern, durchaus auch singend, Elmar!

Dritte im Lesereigen war Suse aus Neukölln, die einen „Goldenen Nachmittag ohne Nixe“ zum Besten gab. „Wir treffen uns beim Supermarkt. Rotze wartet bereits.“ So setzte sie von Anfang an treffsicher den Ton. Die Ich-Erzählerin der Milieustudie ist knapp 14, raucht und trinkt Goldkrone, um sich den Tag zu vergolden. Zum Geburtstag wünscht sie sich Torte, Sekt und „dass Muddern mal nüchtern ist“. Sie hat das Sagen in der Gang, zu der auch Zecke, Kay und Nixe gehören. Aber Nixe fehlt an dem Tag, und Zecke ist zu spät. Muss dafür Pizza klauen im Supermarkt. Erst läuft alles glatt, dann kommen „die schwarzen Ladenhüter“, und es wird eng für die Mädchen … Suse weiß, wovon sie redet und ist nicht nur sprachlich dicht dran an ihren Protagonisten. Das Publikum ging voll mit.

Nach der Pause ist vor der Wahl. Doch Überraschung: Nicht nur die von Leovinus beverste in Thüringen ist passé, sondern auch die zum Themenbeauftragten für Dezember – glücklicherweise mit besserem Ergebnis. Der abwesende Frank hatte sich darum beworben und muss sich nun zum Thema „Kirsch“ was einfallen lassen, nachdem „Sündenfall“ – Thema Nr. 1 – in der (erstmaligen) Publikumsabstimmung durchgefallen war.

Was wäre eine Lesebühne ohne Wolfgangs Assoziationsakrobatik? Kariert versus liniert – so lautete die Versuchsanordnung. Eine Recherche im Schreibwarenladen brachte die ganze Bandbreite an möglichen Lineaturen zutage: groß- oder kleinkariert, mit Rand oder ohne und wenn ja, wie breit. Der Transfer der Lineaturen ins wahre Leben gelang Wolfgang bei einem Punkkonzert auf dem Tempelhofer Feld mühelos, fand das geneigte Publikum. Eine Zuhörerin nahm die Frage mit, welches Teilchen oder Kästchen im großen Ganzen sie wohl sei und ob sie auch Ränder habe. Danke, Wolfgang, für diesen erfrischenden Denkanstoß!

Eigentlich zu spät erschienen, weil in Unkenntnis unserer neuen Anfangszeit (19.30 Uhr), bekam Oliver doch noch die Chance zum Vortrag. „Part of missing man“, lautete der Titel, wenn ich das richtig notiert habe. Es ging um Kurt Cubain, den 1994 mit 27 jungen Jahren selbstgemordeten Sänger und Gitarristen der Band Nirvana, um sein Album „Never Mind“, seine schwierige Kindheit, die quälende Monotonie seines Rockstarlebens, seine Depressionen. Ein langes Gedicht nannte Oliver den sprachlich dichten, inhaltlich schwebenden Text, dem wir gern zuhörten. Nach eigener Aussage ging es ihm um Konformismus, Wahrhaftigkeit und wie Kreativität auch in einem brutalen Arbeiterumfeld an Gestalt gewinnen kann. Cubains Geist traf das jedenfalls ganz gut, fand nicht nur Wolfgang.

Mit „Die Wohnung“, einem Auszug aus etwas Längerem, beschloss Barbara diesen abwechslungsreichen Abend. Ihr Text knüpfte direkt an ihre Älteres-Ehepaar-Geschichte an, in der die Frau auf den richtigen Moment zum endgültigen Gehen wartet. Jetzt ist sie wirklich fort, allein in der im Stillen gekauften Zweieinhalbzimmerwohnung. Es klingelt an der Tür, sie muss eine allzu neugierige Nachbarin abwimmeln, bevor sie sich ein Glas Wein gönnt. Das soll ihr helfen, „den Mann zu vergessen, der sie 35 Jahre lang zu seiner Haushälterin gemacht hat“. Eine sehr geradlinig erzählte Episode, merkte Suse an, und tatsächlich könnte das Gesamtprojekt durch mehr Gestaltungsfreude noch gewinnen. Erzählenswert fanden wir die Geschichte allemal.

Das war sie auch schon wieder, die etwa 182. offene Lesebühne SoNochNie. Die schönen Fotos stammen wie immer von Michael – danke! Unser Dank geht natürlich auch an das Team vom Zimmer 16. Am 25. November wird uns dann Wolfgang als Themenbeauftragter verraten, was es mit einem „Vorhang“ auf sich hat, vielleicht gehabt hätte oder künftig würde haben können. Wir sehen uns!

Sechs Streiche Lesen

Georg V., letzter König von Hannover, wäre an diesem 27. Mai 2019 ganze 200 Jahre alt geworden, verriet uns Moderator Leovinus eingangs launig. Diesem bedeutenden Anlass nicht ganz entsprechend ging‘s mit ‚nur‘ sechs Lesenden auf unserer 133sten SoNochNie-Bühne eher übersichtlich zu. Ob das Relegationsspiel von Union Berlin gegen den VfB Stuttgart mit folgendem Union-Aufstieg in die erste Bundesliga daran irgendwie beteiligt war, bleibt allerdings reine Spekulation. An Spannung hat es an diesem Abend im Zimmer 16 dennoch selten gefehlt.

Unsere Themenbeauftragte Ulrike Günther schaffte es trotz gegenteiliger Ankündigung pünktlich zu 19.30 Uhr auf die Bühne und fing uns mit ihrem vom Handy gelesenen bild- und metaphernreichen Text zum Thema „Sieben Streiche Leben“ mühelos ein. Ihr Protagonist Moritz bekommt in einem Berliner Straßencafé die Aufsicht über ein Paket übertragen, das, wie sich herausstellt, an ihn adressiert ist und ihm – nach Kündigung im Büro – mit (zu engen) blauen Schuhen den Weg in eine lichtvolle südfranzösische Zukunft weist. Der Text ist in sieben Tageskapitel unterteilt, jeweils gekrönt von einer Überschrift aus der gut durchgemixten Sprücheküche. Von „Müßiggang ist so alt wie die Zeitung von gestern“ bis „Das blaue Wunder pfeift von den Dächern“ – alles dabei. Die Sprache kam gut an, die Spannung stieg von Tag zu Tag. Verdientermaßen gab‘s dafür die Ehrenurkunde. Danke, Ulrike!

Richard Hebstreit, unser zweiter Lesender, hatte gleich seinen Lektor und den Protagonisten seines „Ludendorf“-Textes aus der Sammlung „Berlin – Komische Geschichten“ mitgebracht und zeichnete die Lesung wohl auch auf. Der Ich-Erzähler bewirbt sich wie der titelgebende Ludendorf um einen ABM-Job als Hilfstarif- bzw. Hilfsexistenzgründungsberater. Beide werden eingestellt und erleben Anekdotisches mit den übrigen 40 Mitarbeitern. Gegen Ende wird der Erzähler von einem Klienten namens Hassan, von dem er finanzielles Unheil abwenden soll, zur Hochzeit eingeladen, woraus wohl nichts werden wird, wie Ludendorf unkt. Das Feedback aus dem Publikum war eher kritisch. Der rote Spannungsfaden wurde in dieser episodischen Reihung mehrheitlich vermisst.

Als Stammleserin stellte nun Petra Lohan ihren neuen Text „Ohne Gesicht“ vor. Die schreibwillige Ich-Erzählerin beobachtet auf einem großen Platz in der Stadt die Begegnung eines sehr, sehr alten Mannes (mindestens 200 Jahre – eine Wiedergeburt Georg V. von Hannover?), der anfangs reglos wie eine Skulptur erscheint und sein Gesicht hinter einem Tuch verbirgt, mit einem jungen Mann, der als Clown verkleidet vom Junggesellenabschied kommt. Alkohol ist beteiligt und Scham. Die rote Clownsnase, vom Wind als Spielball zwischen den beiden und der Erzählerin benutzt, schafft Raum für Assoziationen. Es ist ein leiser Text mit melodischer Sprache. Jemand meinte, Clowns seien als Motiv zu abgenutzt, um noch darüber schreiben zu können, eine andere, dass die Erzählerin verzichtbar sei, ein Dritter empfand gerade im Figurendreieck Spannung. Das Uneindeutige, Unfertige an diesem Text forderte heraus – ganz im Sinne unserer Werkstattbühne.

Auch Matthias Rische gehört schon länger zu unseren Wiederholungstätern. Mit „Der Wandler“ bot er diesmal die feinfühlig erzählte Geschichte eines Jungen, der dem Vergleich mit dem verschwundenen älteren Bruder in den Augen der Mutter nie Stand halten konnte und daran leidet, aber nicht zerbricht. „Wo ist Massimo?“ – Die Frage bestimmt sein Denken und Tun. Mit der Energie des Forschers legt er im Garten ein Rohr frei, das andeutet, was mit dem Bruder passiert sein könnte. Im Rohr findet er die Eier von Schmetterlingen, luftigen Flugwesen als Metapher für eine andere Welt. Er sei ein Träumer, sagt die Mutter, doch er widerspricht: „Ein Wandler, Mutter, ein Wandler.“ Berührend und trotz der schweren Thematik von Hoffnung getragen hat der Text das Publikum überzeugt.

Vor der Pause sprang Leovinus mutig in die Bresche, als niemand freiwillig den Juli-Themenbeauftragten geben wollte. Das erste Thema „Wahrnehmungsillusionen“ lehnte er aus purer Neugier ab und muss sich deshalb nun mit „Wundheilung“ beschäftigen. Wir sind gespannt.

Heiko Heller beehrte uns nach längerer Pause mal wieder mit einem Vortrag, in dem er seine Erfahrungen nach einem anaphylaktischen Schock aufgrund übermäßigen Pfirsichverzehrs verarbeitet. „Der Tod hat eine Pfirsischhaut“, so der Titel. Dem ernsten Anlass trotzend rang er der Situation jede Menge Komik ab. „Ein Ossi, der an Südfrüchten stirbt. Das wäre mir in der DDR nicht passiert.“ Oder: „In Krankenhäusern bekommt man oft Indianernamen. ‚Der lange Schock‘ aus Zimmer 13…“ Oder: „Ich sollte Krankenhausserien schreiben. Am Ende jeder Folge wären bei mir alle tot. Das wäre ein völlig neues Konzept.“ Das Publikum ging voll mit. Jemand regte sogar an, den Text an den Eulenspiegel Verlag zu schicken. Es lebe die pointierte Unterhaltung!

Zuletzt – wie schon so oft – entführte uns Wolfgang Weber mit drei Texten, die er in verschiedenen Ausgaben des Kunstmagazins ‚Innenwelten‘ veröffentlichte, ins Jahr 1969. Genauer gesagt auf eine subventionierte Reise, die er 16jährig mit dem Kreisjugendring nach Berlin unternahm. In 14 Streiflichtern lässt er die Stadt und seine Erinnerungen aufblitzen, die Grenzkontrollen, das Jugendzentrum Marienfelde, das Haus der Kulturen der Welt, das sowjetische Ehrenmal, das ‚Big Eden‘, die Pfaueninsel, das Sechs-Tage-Rennen, den Fernsehturm, aber auch die Mondlandung, die Willy-Brandt-Wahl, den berühmten Africola-Slogan. „Es passierte so viel, dass es für mehrere Jahre gereicht hätte. Ein Kaleidoskop. Ein Kessel Buntes. Und heute? Und ich? Bin wieder in Berlin. Schon seit 30 Jahren“, schließt er. Nicht ganz so wild assoziativ wie sonst war sein Text diesmal eine leisere, persönlichere Zeitreise in historisch bewegte Tage.

Zum frühen Abschluss des Leseabends gegen 22 Uhr stand es bei Union zwar immer noch 0:0, auf dem Lesbühnenspielfeld konnten wir aber durchaus ein paar Tore verbuchen. Danke an alle Autorinnen und Autoren, an das Publikum, an Moderator Leovinus, an Fotograf Michael Wäser und an unsere Gastgeber im Zimmer 16! Bis zum nächsten Mal bei SoNochNie am 24. Juni 2019, wenn Michael Wäser als Themenbeauftragter uns Schockierendes rund um die „ZIGARRETE“ (echt wahr) enthüllt …

Beim Kürzen werden die Texte länger

Diese 129. Lesebühne SoNochNie! vom 28.1.2019 war eine besondere, fühlte sich so an, vielleicht weil „das Radio“ da war, versteckt im Publikum; vielleicht weil da zwei Mikrofone waren, eins für den Lesenden, eins für den Moderator und die Zuhörer; nicht direkt eine Premiere, aber doch wegweisend für die Zukunft, da immer mehr andächtig Lauschende auch die hinteren Reihen füllen; und natürlich wegen des großen Ereignisses, das seinen Schatten vorauswarf. Aber der Reihe nach.

Norbert Leovinus Wurzel führte launig durch den Abend, erklärte die Lesebühne zur dreitausendsiebenhundertneunundachtzigsten (wenn ich richtig mitgeschrieben habe), die (wenn ich richtig gerechnet habe) erst im Jahr 2324 sein wird. Weiß nicht, welche Urnachkommenschaft von Leo da moderieren wird und wo. Und diese Frage führt uns stante pede zum Thema des Abends:

Spekulationen.

Themenbeauftragter war unser allen ans Herz gewachsener Wolfgang Weber, der in bewährt assoziativ-rhythmischer Weise dem Thema zu Leibe rückte, wie immer unmöglich in drei Sätzen zusammenzufassen, aber ein paar Fetzen kann ich am geneigten Leser vorbeirauschen lassen: Er kündigte 99 Sätze an und warf Fragen auf: Wie spekuliere ich mit Geld, das ich gar nicht habe? Bekam James Brown seine Sex machine zum Laufen? Er brachte John Maynard und John Maynard Keynes zusammen, weil sie beide irgendwie Steuermänner waren; eröffnete uns seine Entdeckung des Volkes der Kraten, namentlich erwähnte er die Unterstämme der Büro- und der Autokraten. Zwischendurch fragte er, ob wir auch spekulierten, nämlich, wie viele von seinen 99 Sätzen schon vorbei wären. Ich käme nie auf die Idee diesbezüglich zu spekulieren, weil ich Anfang und Ende seiner Sätze nicht genau ausmachen kann. Als dann der 99. Satz dran war, beschäftigte ihn, was Goethe zu all dem sagen würde, wenn er noch lebte. Antwort: Nichts, denn er ist schon tot. In der Diskussion kam die Bemerkung, dass es diesmal schon seine Längen gehabt hätte, da sagte Wolfgang den bemerkenswerten Satz: Beim Kürzen werden die Texte länger. Und rasselte dazu mit seinen Rhythmuseiern.

Die zweite Vortragende war ein Gast aus Hamburg, Andrea Schomburg. Sie konnte ihre Texte alle auswendig und benutzte Leos Mikrofon, weil sie wanderte. Es handelte sich um zauberhafte lyrische Miniaturen, alle mit feinem Witz versehen, u.a. von einem Rotfuchs und einem Hühnchen; der Fuchs beeindruckte das dumme Huhn, aber am Ende des Abends war sein Portemonnaie weg und es folgte die Moral von der Geschicht: Noch nicht mal einem dummen Huhn kann man als Fuchs noch trauen. Der zweite Text handelte vom Großstadtparadies, das kommen wird, wenn das Rahm-Vitello wieder zum Kälbchen wird. Dann ging es um die Libido der Kartoffelchips (gehaucht (oder doch geknistert?): Komm, du willst es doch auch!); dann kam Parzival auf der Suche nach dem Gral in das Dörfchen Wuppertal und wurde von einer ansässigen Hausfrau beschieden: Das ist doch Quatsch mit dem Gral, das lassen se mal – sie machte ihn zum Schüsselverkäufer in … habe ich vergessen … Minden? Dort denkt er nur noch selten an das Generve mit dem Gral. Andrea beschloss ihren Vortrag mit einem neuen Text auf das berühmte Lied von Tevje „Wenn ich noch einmal jung wär…“ um zu schließen: „Manchmal ist’s mir ein Genuss, dass ich nicht mehr jung sein muss.“ Was mich an den schönen Hannes-Wader-Text erinnerte: „Schön ist die Jugend, so sorglos und frei, Gott sei Dank ist sie endlich vorbei, und sie kommt zum Glück nie mehr zurück.“

Leovinus zog danach Jana Franke (das erste Mal auf unserer Bühne) aus dem Lostöpfchen mit dem ernsthaften Text „Schwesterherz“. Es geht um einen Selbstmord und handelt von den unerbittlichen Kriegen auf den geschwisterlichen Schlachtfeldern. Dem Vorwurf: …Mich damit zu behelligen, dass ich dich abschneiden muss!“, dem linken Turnschuh, der gegen die Schläfe des literarischen Ich stieß. Es wird die Geschichte einer symbiotischen Geschwisterbeziehung erzählt, die andere Kinder teils ausschloss („Sprüche von den anderen Kindern erreichten mich nicht, von dir waren sie vernichtend…“). Schön fand ich den Satz von einem Ringelpullover, der kratzte, als wäre er mit Brennnesseln gestrickt. In der Diskussion wurde klargestellt, dass es sich nicht um eigenes Erleben handelt („Ich bin ein Einzelkind!“ – zwischen eigenem Erleben und Literatur sollte eine Distanz bestehen, erklärte die Autorin) und sie erwähnte, dass der Text einen Preis bekommen hat und schon zwei Mal verlegt wurde. Das Publikum war jedenfalls beeindruckt.

Als Letzter vor der Pause las Matthias Rische den Text „Freigang“ mit der Ankündigung: Richtig lustig wird es nicht. Da wandert einer und denkt: Der Weg ist das Ziel, so’n Scheiß! Das fand ich schon mal ziemlich lustig. Ein dystopisch gestimmter Mann sieht identische Familien mit identischen Lebensplänen, die diese hinter zugezogenen Gardinen verbergen. Er lechzt nach etwas Abweichendem. Aber er sieht nur einen Hügel, der keinen Zweck erfüllt, als irgendwann ein anderes Irgendwo hinabzufallen. Ein Fernglas ist seine Hoffnung auf eine Verbindung zum realen Leben. Ein Kaiman taucht auf mit faulig fischigem Atem. Die Berührung seiner Schuppen das einzig intensive Erleben. Bin ich meinem Kopf entflohen? Ist das noch Realität? Sind unvorhergesehene Dinge, die in einer öden Welt passieren, eine Form der Gewalt? Was werde ich sehen, wenn ich die Augen wieder öffne? Sei achtsam, sagte der Kaiman. Micha erinnerte der Text an Hertha Müllers Texte über das Rumänien der Ceausescu-Zeit. In der Diskussion wurde sich darauf geeinigt (?), dass der Text nicht zu einem depressiven Kopf gehört, sondern zu einem, der die Welt ablehnt und Angst hat, doch hineinwachsen zu müssen.

Dann war Pause und Leovinus kündigte unser zehnjähriges Jubiläum am 25. März 2019 an, zu dem jeder aufgefordert ist, einen Text zu verfassen zum Thema „Mensch, ist die groß geworden“ (maximal drei Minuten) und diesen in einer Stoppuhr-Staffel (gibt’s sowas überhaupt?) vorzutragen. Man darf auch ohne Text kommen, muss aber dann drei Euro Eintritt zahlen. Außerdem covern die Stammautoren der Lesebühne sich gegenseitig und schreiben je eine Geschichte eines anderen neu unter dem Motto „geschickt gecovert“. Darauf freue ich mich schon sehr. Deshalb wurde für den März auch kein Themenbeauftragter gewählt. Wer Themenbeauftragter für April werden will, muss am 25. Februar wiederkommen.

Anschließend wurde Angela Bernhardt gelost. Sie las erste Zeilen zu einem größeren Projekt, in dem es um das Verschwinden geht und um die Frage: kann ich mir sicher sein, dass da überhaupt jemals einer da war; an sich der Stoff zu einem Gruselfilm; meine Horrorvorstellung par excellence: wenn meine eigene Wahrnehmung keinen Spiegel in anderen Wahrnehmungen mehr findet. Den Leser beruhigte die Autorin schon mal damit, dass sie aus der Perspektive des Verschwundenen begann. Der Leser bekommt einige Andeutungen zu hören, warum es passiert, im Zentrum der verheerende Satz: von jedem bleibt etwas, noch mehr Fragen als Antworten – die „Verlassene“, aus deren Perspektive der zweite Teil erzählt wurde, hat ihre liebe Not, einen Beweis zu finden, dass ihr Begleiter in die ewige Stadt tatsächlich mit ihr dort war – und muss dafür eine Horde japanischer Touristen überzeugen, dass sie ihre Handyfotos sehen darf (und den Beweis ausdrucken). Angela erfuhr Zuspruch von Jana, der die neuen unverbrauchten Bilder gut gefallen haben und von Andrea, die fand, dass es gut gelungen ist Spannung zu erzeugen. Wir sind auf den Fortschritt des Projektes gespannt.

Die sechste Lesende des Abends war Margret Franzlik, die ebenfalls aus etwas Größerem vortrug über das Ding in meinem Kopf, ein Text, der sehr offen mit einer Erkrankung und deren Folgen umgeht, ohne eine allzu große Distanz zwischen persönlichem Erleben und Geschriebenem herzustellen. Aus der sitzenden Position wird sie das Schreiben, schreibt sie, jedenfalls nicht herausholen. Vom Sessel vor dem Fernseher direkt an den Schreibtisch. Um aufzuarbeiten was geschehen ist, bzw. was sie erfahren hat, dass da eine große glatt begrenzte Raumforderung in ihrem Kopf ist, dass sie möglicherweise nicht mehr lange zu leben hat, und doch ihren Enkel aufwachsen sehen will. Ich fühlte mich in Ähnlichkeit und starkem Unterschied erinnert an Wolfgang Herrndorfs „Arbeit und Struktur“, das ich der Autorin gerne empfehlen möchte. Auf alle Fälle hat der Text große Teile des Publikums stark bewegt.

Dann zog Leovinus mich aus der Lostrommel. Es gab einen kurzen Ausschnitt aus meinen Roman. Ich danke für die Anmerkungen, insbesondere zu der Frage der Reflexionen oder Erinnerungsfetzen einer handelnden Person, und wie einen das aus der Handlung und der Spannung reißen kann. Man soll doch darauf vertrauen, dass sich der Leser merkt, was er hundert Seiten zuvor schon mal gelesen hat. Aber weiß ich als Autor, was ich vor hundert Seiten schon mal geschrieben habe? Ich werde die Anregungen beherzigen. Schwöre.

Und zum Abschluss las Andrea Maluga über Martha und Ida, die vor hundert Jahren nach Berlin kamen, als Dienstmädchen im Grunewald, später als Büglerinnen der Spitzenkragen der feinen Damen im Prenzlauer Berg, mit Wohnung in einem kleinen Stübchen drei Stockwerke über der Wäscherei, wie es Malzkaffee und Brotsuppe gab und die Meisterin für das Wochenende auch mal ein Ei spendierte. Der Aufreger aber war ein grünes Kleid, das Martha Ida für den Samstagabendschwof schenkte, weil sie es von der Schillerschen, die es nicht mehr tragen konnte, ebenfalls geschenkt bekommen hatte. Ging darum, ob man das ausfüllt (das Wort Busenschönheit kannte ich noch gar nicht) und sich damit einen Galan angeln kann, in Potsdam auf der allwöchentlichen Brautschau. Sie kriegten auch Beide einen ab (obwohl Ida erst rummoserte, als Martha mit ihrem Husar knutschte), bekamen Kinder (Martha gab Ida eins ab) und einen Lungensteckschuss (der Husar) und an dem Punkt musste ich an Tucholsky denken „Warum wird beim Happyend im Film jewöhnlich abjeblendt“.  Die Geschichte lebte von der wunderbaren Beschreibung des Lokalkolorits einer untergegangenen Zeit, der wir (un)sinnigerweise manchmal hinterhertrauern.

Das war sie dann auch schon, die 129. Lesebühne SoNochNie! – bis zum 25. Februar – Euer