7 auf einen Streich – Hallelujah!

… aber lasst uns das Pferd nicht von hinten aufzäumen. Leerreich war dieser Jubiläumsabend zum 50. Themenbeauftragten am 24. April 2017 im Zimmer 16 allemal, und er gehört nicht weggekärchert aus der nach vorn offenen Geschichte von SoNochNie. Geflucht wurde weder auf der Bühne noch im Publikum, was dem feierlichen Anlass nur angemessen war, und auch die sonst gelegentlich zu beobachtende Pausenflucht blieb trotz einer textlichen Leerstelle unmittelbar davor erfreulicherweise aus. Nachdem im zweiten Teil geklärt wurde, wer wen im Bus gesehen hatte und ob Wunderwerke der Technik wirklich immer so wunderbar sind, entfuhr uns allen ein erleichterter Stoßseufzer: Geschafft – Hallelujah!

Das war’s schon? Halt, dazu gibt’s doch noch viel mehr zu sagen! Zum Beispiel, dass unser treues Publikum das Zimmer 16 gut gefüllt und uns die Crew des Hauses mit Licht, Tontechnik und Getränken kraftvoll unterstützt hat – besten Dank dafür noch mal an dieser Stelle! Auch unser Moderator Leovinus ist zu erwähnen. Er hat nicht nur unterhaltsam durch den Abend geführt, sondern zu jedem Text sogar eigens einen Limerick verfasst und vorgetragen. Zwischendichtungen gewissermaßen, die für einige Heiterkeit sorgten. Dokumentiert wurde unser Jubiläum auch: fotografisch von Michael und Ulrike und darüber hinaus erstmals zeichnerisch – eine Premiere, die uns ehrt – vom bekannten Pankower Illustrator Christian Badel – danke sehr! Und schließlich: Was wäre dieser Abend ohne unsere sieben Themenbeauftragten gewesen? Bühne frei – hier sind sie mit ihren ganz unterschiedlichen Texten:

Frank machte wie schon so oft den Anfang. Leerreich lautete sein Thema und Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug der Titel seines Textes. Der Ich-Erzähler trifft in der Oper – Wagners Parsifal wird gezeigt – einen älteren Herrn, der ihm sogleich sein familiäres Problem überstülpt: Die Enkelin Querida will von ihm ein Auslandsjahr finanziert bekommen. Eine Unverschämtheit! Der Erzähler sieht das anders. Er würde Querida das Geld geben, denn allein ihr Bittbrief sei eine Form von Zuwendung und da müsse man mit wachsenden Jahren vom Nachwuchs nehmen, was man eben kriege. Das Argument stützte Parsifal höchstselbst: „Er berührte die Wunde mit dem Speer, der sie einst schlug, und sie heilte.“ Ob das für’s Publikum lehrreich war? Aufgepasst: Leerreich hieß das Thema, und der Hintersinn war durchaus ehrenurkundenwürdig.

Maik fühlte sich vor zwei Monaten mit dem Thema Kärcher gut versorgt und brachte mit zwei kurzen Gedichten unsere 15-Minuten-Literat-Uhr nicht mal ansatzweise in Sandnot. Das erste, schlicht Kärcher genannt, begann „Signalgelb auf Schwarz“ und befasste sich mit der von eben jenem Gerät unterstützten beruflichen Reinigung. Privat zog der Dichter allerdings den guten alten Scheuerlappen vor. Aber Kinder müssen doch … raus, sagst du, stellte das zweite Gedicht fest, in dem gefährliche Autos auf der Straße als kärchernde Kinderfresser lauern und der Dichter sich besorgt an gute alte Sicherheiten erinnert: „Zu meiner Zeit wurden wir als Kinder noch an ganz kurzer Leine gehalten.“ Auch an Maik ging dafür die Ehrenurkunde.

Ulrike, extra aus Chemnitz angereist, hat sich beim Thema Fluch und Flucht für die präzise Seelenerkundung einer Juliane entschieden, die sich von klein an innerlich als Julius fühlt und nach einem langen, schwierigen Weg per Geschlechtsumwandlung auch äußerlich zu ihrer wahren Identität – nun als Julian – findet. „Juliane, das ist mein erster Name. Der erste Vorname meines ersten, falschen Lebens“, lud Ulrike uns in ihren Text ein. Von einer Kindheit voller Schreie, erst lauter, später stummer, war die Rede, von mit Binden abgeschnürten Brüsten und Eltern, die ihre Tochter für lesbisch hielten. Vom Fluch, im falschen Körper zu stecken und der Frage, wann die Flucht begann: als sie ihre Puppe vernachlässigte, im Kindergarten den Jungs nacheiferte, die ersten Tabletten schluckte? Und schließlich die Erkenntnis, dass es eben doch keine Flucht war, sondern eine Befreiung. „Und zum ersten Mal kann ich mir selbst in die Augen schauen und Ich sagen. … Eine Vergangenheit habe ich nicht, aber ich habe mich, und das hat ja wohl lange genug gedauert.“ Danke, Ulrike, für diesen berührenden Text! Die Ehrenurkunde versteht sich von selbst.

Michael, mit zehn Einsätzen der Rekordhalter unter den Themenbeauftragten – Glückwunsch dazu! – lieferte, mit der Vorbemerkung, er probiere gern neue Sachen aus, in lyrischer Prosa eine Leerstelle. „Fast ist es noch Nacht heute Morgen“, begann sein Text. „Wir sind nicht zu Hause angekommen. Ich nicht und du nicht.“ Und da deutete sich schon an, welch bedrückendes Thema er gewählt hatte: den plötzlichen Tod. Lebend zur diesseitigen Tür des Krankenhauses hinein, tot zur jenseitigen hinaus. Dazwischen die unfassbare Feststellung „Du bist verschwunden. Ist das alles, was du bist?“ Wie kann ein Abschied gelingen, wo man doch nur mal eben kurz auf den Schlüssel aufpassen sollte? „Was mache ich … … … mit dem Schlüssel?“, bleibt der Erzähler rat- und fassungslos zurück. Das Experiment? Die Pausen, die Michael beim Lesen ließ. Inhalt und Form Hand in Hand. Gut, das du gern Neues probierst und uns daran teilhaben lässt! Die Ehrenurkunde ist dein.

In der wohlverdienten PAUSE wurden fleißig Themenzettel beschrieben, aus denen anschließend nur ein einziger gezogen wurde. Augenaufschlag wird das Juni-Thema von Cordula sein, die sich zum ersten Mal mutig dem Auftrag stellt. Im Lostopf blieben folgende Themen zur freien Inspiration für alle anderen (in Original-Schreibweise übernommen!): Ein echter Fiesling, FUSSSTAPFEN, Lichtgestalten, STEINLAND, Schneckentempo, Joachim, Heilbronn, Kiez König for ever!, Tee-Nager, Das Gummiband, Stadien der Wehmut, Zieh ihn bitte wieder raus!, SCHEE IM JUNI, Sturzgeburt, Kontrollverlust, Themenbeauftragte., Buttersäure.

Auch nach der Pause erwartete uns ein Experiment: Max wurde per Handy live aus Braunschweig zugeschaltet, während sein zweidimensionales Konterfei hinterm Lesetisch posierte. Passend zum Thema Ich habe dich im Bus gesehen untersuchte Max Sehgewohnheiten: „Ich habe mich im Spiegel gesehen. Ich habe mich im Schaufenster gesehen. Ich habe mich in der S-Bahn-Scheibe gesehen.“ Auch bei ihm eine Erkundung zwischen Ich und Du. „Ich habe mich verpasst. Wir trafen uns nicht in der Mitte“, schloss er seinen vieldeutigen, melancholischen Text und bekam dafür … na? … eine Ehrenurkunde.

Wunderwerk der Technik war Thema und Titel meiner (Angelas) Geschichte. Isa, die sich in ihrem überschaubaren Leben als Lokalredakteurin eingerichtet und darüber vergessen hat, dass sie mal eine berühmte Radiojournalistin werden wollte, erinnert sich dank einer SPLIFF-Schallplatte auf dem Flohmarkt ihrer ersten großen Liebe Philipp, seinerzeit E-Gitarrist mit dem Zeug zum Star. Nicht nur die große Liebe, schon der erste Kuss scheiterte an unüberbrückbaren Differenzen im Musikgeschmack, denn Isa stand auf ABBA. Aus einer Laune heraus schickt sie Philipp die Platte und … bekommt einen MP3-Player zurück, auf dem sich ABBA und SPLIFF im trauten Duett finden. Wäre das nicht auch eine Option für sie beide?, stellt Philipp in den Raum, als er vor ihrer Tür auftaucht. Nein, er ist kein Rockstar geworden. Und nein, sie hat den Pulitzer-Preis noch nicht gewonnen. Aber … ist es wirklich schon zu spät für ihren alten Traum? Isa verzichtet auf das Wunderwerk der Technik, das sie beide vielleicht doch noch hätte vereinen können und wagt ein ganz untechnisches Wunder: den Neuanfang. Auch dafür gab’s die Ehrenurkunde.

Zuletzt entführte uns Leovinus mit Hallelujah ins Reich seiner schrägen Phantasie. „Sagen Sie, junger Mann, wo drücke ich denn, wenn ich in den Fünften will?“, erkundigt sich ein mysteriöses altes Mütterchen im Kaufhaus und bietet dem Erzähler Kirschkuchen an. Weil der ablehnt, wünscht sie ihm ein Halleluja in den Bauch. Das muss rausgeschnitten werden, sagt der Arzt. Der Erzähler sträubt sich, denn die Alte hatte ihn gewarnt: Wenn Sie es rausschneiden lassen, holt Sie mein Sohn! Als der Geplagte aus der Narkose erwacht, ist er wieder im Fahrstuhl. Neben ihm ein Junge mit leuchtend blauen Augen, der die Sense schwingt. Auf alte Mütterchen ist eben Verlass. Und auf die Ehrenurkunde auch.

So, das war’s jetzt aber wirklich zu diesem rundum gelungenen Jubiläumsabend! Nein, doch noch nicht ganz? Ich höre, da freut sich schon die nächste offene Lesebühne SoNochNie am 22. Mai 2017 auf frische Texte und reichlich Publikum. Also: Seid wieder dabei!

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